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50 Jahre Frauenstimmrecht Emilie Lieberherr: «Frauerächt – Menscherächt!»

Wie die Zürcher Frauenrechtlerin Emilie Lieberherr mit ihrem furchtlosen Auftritt auf dem Berner Bundesplatz den Weg zum Frauenstimmrecht ebnete.

Das hat es noch nie gegeben: Tausende von Frauen aus der ganzen Schweiz demonstrieren auf dem Berner Bundesplatz. Es ist Samstag, 1. März 1969, früher Nachmittag.

Strahlende Gesichter. Transparente in der Luft: «Pas de discrimination» oder «Zweierlei Recht ist Unrecht». Auf der Rednerinnentribüne steht, in einen roten Mantel gehüllt, die 44-jährige Zürcherin Emilie Lieberherr.

Mit fester Stimme spricht sie zur Menge: «Wir Schweizerinnen hier auf dem Bundesplatz verlangen das volle Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer und kantonaler Ebene.» Und: «Wir stehen hier nicht als Bittende, sondern als Fordernde!» Applaus.

Vorstösse scheitern reihenweise

Die Demonstration auf dem Bundesplatz ist ein Höhepunkt im langen Kampf der Schweizer Frauen um politische Gleichberechtigung. Bereits 1868 melden Frauen im Kanton Zürich erstmals öffentlich ihren Anspruch darauf an. Ohne Erfolg.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstehen Frauenvereine. Sie kämpfen für die rechtliche Besserstellung. Die Erfolge sind bescheiden: Die Frauen erhalten vereinzelt das Recht zur Mitarbeit in Schulkommissionen.

Parlamentarische Vorstösse von Linken und Freisinnigen scheitern reihenweise. Auch die vielen Volksabstimmungen über das Frauenwahlrecht in den Kantonen.

Die Ängste der Männer

Der parteilose Schwyzer Nationalrat Josef Schuler bringt in einer parlamentarischen Debatte die patriarchalische Stimmung auf den Punkt: Ein Mann würde «geradezu erniedrigt», wenn er sagen müsste, seine Frau sei «Gemeinderat, Kantonsrat oder sogar Nationalrat» – und nicht er selbst.

Es gibt auch Frauen, die sich gegen das Stimmrecht engagieren, darunter der «Schweizerische Frauenkreis gegen das Frauenstimmrecht». Er schreibt 1951, es brauche keine «politisierenden Frauen, sondern Mütter».

Emilie Lieberherr: Vorkämpferin des Frauenstimmrechts

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Emilie Lieberherr (1924-2011) zählt zu den profiliertesten Vorkämpferinnen des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Das Kämpferische hat sie seit ihrer Kindheit in Erstfeld im Kanton Uri im Blut. Ihre Mutter ist Schneiderin, ihr Vater Eisenbahner und aktiver Gewerkschafter.

Da in Uri ausschliesslich Knaben zum Gymnasium zugelassen sind, wendet sich die 16-Jährige auf eigene Faust an die Schule im Kloster Ingenbohl im Nachbarkanton Schwyz. Sie wird aufgenommen, erwirbt als erste Urnerin die Matura und studiert danch an der Uni Bern Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. 1965 erwirbt sie den Doktortitel.

Lieberherr arbeitet als Personaltrainerin in einem Warenhaus und als Lehrerin, unter anderem auch in den USA als Privatlehrerin im Haus des Hollywood-Schauspielers Henry Fonda. Von 1960 bis 1970 ist Lieberherr Berufsschullehrerin in Zürich.

Nach dem «Marsch nach Bern» wird Emilie Lieberherr landesweit bekannt. 1969 tritt sie der SP bei. Von 1970 bis zu ihrem Rücktritt 1994 amtet sie als erste Frau als Stadträtin der Stadt Zürich. Ihre Arbeit als Vorsteherin des Zürcher Sozialamts, insbesondere ihre Drogenpolitik, findet international Beachtung. Zwischen 1978 und 1983 vertritt sie zudem als Ständerätin den Kanton Zürich in Bundesbern.

Das erste Nein

1959 die erste nationale Abstimmung: Nein mit Zweidrittels-Mehrheit. In Basel treten 50 Gymnasiallehrerinnen in den Streik.

Es gibt auch Lichtblicke: Die drei Kantone Genf, Waadt und Neuenburg, die Ja gestimmt haben, führen das kantonale Frauenstimmrecht ein.

In den 1960er-Jahren gewinnen in den Stimmrechtsvereinen jene Kräfte an Boden, welche den Kampf auf die Strasse tragen wollen. Die Frauenbewegung gerät in den Sog der Jugendrevolte, die 1968 aufbricht.

Der Stein des Anstosses

Das Fass zum Überlaufen bringt im selben Jahr der Bundesrat mit seiner Ankündigung, der europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten, allerdings mit dem Vorbehalt der dort verankerten politischen Gleichstellung von Mann und Frau.

Die Frauenverbände schreien auf: Das Ansinnen des Bundesrats würde die Bevormundung zementieren!

Der «Frauenstimmrechtsverein Zürich» beschliesst einen «Marsch nach Bern» von Frauen aus dem ganzen Land. Eine ganze Reihe von Frauenverbänden distanziert sich. Man will die Männer nicht vergraulen.

Für das Zürcher Aktionskomitee gibt es kein Zurück. Es steht unter der Leitung der energischen und charismatischen Feministin Emilie Lieberherr. Eine Frau, die niemals ein Blatt vor den Mund nimmt und die – wenn es sein muss – auch burschikos aufzutreten vermag.

Der historische Tag

1. März 1969: Tag der Demo, Bundesplatz. Rund 5'000 Frauen sind angereist. Allen Unkenrufen zum Trotz. Emilie Lieberherrs Freude kennt keine Grenzen.

Als sie sich auf der Tribüne per Mikrofon an die Menge wendet, strotzt sie vor Selbstbewusstsein: Die Demokratie «ohne die Mitwirkung der Frauen» sei «unvollkommen und einseitig», ruft sie über den Platz. «Echte Humanität» setze «auch im Staat die Partnerschaft von Mann und Frau voraus». Bravorufe. Applaus.

Das Publikum skandiert Losungen: «Frauerächt – Menscherächt!» Dann ein Pfeifkonzert an die Adresse des Bundesrats. Und schliesslich deponiert Emilie Lieberherr zusammen mit einigen Mitstreiterinnen im Bundeshaus eine Resolution mit der Forderung, das Frauenstimmrecht «so rasch als möglich» zu verwirklichen.

Sie sprach Frauen aus dem Herzen

Die Aktion geht im Nachgang als die spektakulärste und wirkungsvollste Demonstration der schweizerischen Frauenbewegung in die Geschichte ein. Niemand vor Emilie Lieberherr hat es gewagt, wie sie derart deutlich in aller Öffentlichkeit Tacheles zu reden – und damit vielen Frauen aus dem Herz zu sprechen.

Emilie Lieberherrs Mut zahlt sich aus: Knapp zwei Jahre später, am 7. Februar 1971, wird das Stimmvolk der Männer ein zweites Mal an die Urnen gerufen. Zwei Drittel sagen jetzt Ja.

Der Wind hat gedreht. Und dies zu einem guten Teil dank Emilie Lieberherrs historischem Auftritt.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 31.1.2021, 9:03 Uhr

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