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500 Jahre Reformation «Pornographische Schweinerei»: Als «Ursula» die Gemüter erregte

«Ursula» sollte eine Sternstunde des Fernsehens werden. Gross angekündet und prominent platziert wurde der Spielfilm nach der Novelle Gottfried Kellers am Reformationssonntag 1978 ausgestrahlt. Der Schock war hierzulande und in der DDR gross – zu viel nackte Haut, zu wirr der Film.

500 Jahre Reformation

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Die Reformation ist nicht Geschichte. Sie prägt uns bis heute. Vom 29. Oktober bis zum 5. November 2017 zeigt SRF Kultur, warum Luther, Calvin und Co. nicht passé sind. Alle Inhalte rund um unseren Schwerpunkt finden Sie hier.

Es ist die Geschichte von Ursula und Söldner Hansly. Sie verlieben sich in den Wirren der Zürcher Reformation im 16. Jahrhundert. Ursula hat sich den Täufern angeschlossen – dem «linken» Flügel der Reformation. Diese fordern unter anderem Glaubensfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat. Das Sakrament der Ehe lehnen sie ab. Hansly hingegen begeistert sich für die Lehren Huldrych Zwinglis.

Gottfried Kellers Novelle «Ursula» wird in den 1970er-Jahren vom Schweizer Fernsehen und dem Fernsehen der DDR verfilmt. Die Liebesgeschichte: Sie wird zum Fernsehskandal.

«Zwingli hätte sich im Grabe umgedreht»

Das Schweizer Fernsehen erhält nach der Ausstrahlung von «Ursula» eine Strafanzeige wegen «unzüchtiger Veröffentlichungen» und eine noch nie dagewesene Flut von Leserbriefen: «Pornographie», «verzerrte Darstellung der Reformation», «unschweizerisch» – so der Tenor der empörten Zuschauerrufe.

Video
Suzanne Stoll über ihre Rolle
Aus Kultur Extras vom 28.10.2017.
abspielen. Laufzeit 37 Sekunden.

«Wer sind die Verantwortlichen, die uns am Reformationssonntag die pornographische Schweinerei ‹Ursula› zumuteten?»

«Der Gottfried Keller hat sich sicher im Grabe umgedreht.»

«Die Gestalt des grossen Reformators Zwingli wurde verzerrt und bösartig gestaltet.»

Skandalfilm «Ursula» bei SRF

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Jenseits der Schamgrenze

«In der Schweiz hat man sich vor allem an der sexuellen Derbheit gestört, die jenseits der Schamgrenze lag», sagt Franziska Widmer. Sie ist die Autorin von «Zwischen den Stühlen» – einem Buch über die Geschichte des Fernsehskandals um Ursula. «Der Film ist voll wütender Aggressivität. Man versteht ihn einfach nicht. Und: Es war sicher mehr ein DDR-Film als ein Schweizer Film. Das hat die Schweizer Zuschauer aufgeregt. Sie haben viel dran gezahlt und fühlten sich verschaukelt. Das ist nachvollziehbar.»

Der Film landet im Giftschrank und darf nur in einer zensierten Fassung ausgestrahlt werden. Für die blutjunge Schauspielerin Suzanne Stoll, die Ursula spielt, bedeutet der Film das Aus. Heute sagt sie: «Es sollte der Anfang meiner Karriere werden, doch es wurde das Ende.»

Die Reaktionen in der DDR

Auch in der DDR ist die Empörung gross. Hier hat der Skandal auch personelle Auswirkungen.

Hans Bentzien, der stellvertretende Vorsitzende des Staatlichen Komitees für Fernsehen, muss gehen. Der Drehbuchautorin Helga Schütz wird das nächste Projekt, an dem sie gerade arbeitet, entzogen.

Video
Schauspielerin Suzanne Stoll zu «Ursula»
Aus Kultur Extras vom 29.10.2017.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 2 Sekunden.

Der Regisseur Egon Günther verlässt die DDR Richtung Westen. Auch in der DDR landet «Ursula» im Giftschrank. Erst 1990 wird der Film wieder ausgestrahlt.

Gottfried Keller – in der DDR beliebt

Gottfried Keller ist in der ehemaligen DDR ein gern gelesener Dichter, dessen Werke wie «Kleider machen Leute» Schulstoff sind. Die Idee für eine Verfilmung von Kellers «Ursula» stammt von Helga Schütz und Egon Günther.

Die Schriftstellerin und der Regisseur sind in der DDR ein bekanntes Promi-Paar. Sie schreibt, er inszeniert. Gemeinsam haben sie schon einige Filme realisiert.

Egon Günther – ein Fall für die Zensur

Egon Günther hat sich in der DDR als Regisseur von Literaturverfilmungen einen Namen gemacht. Die bekannteste: «Lotte in Weimar» mit Lilli Palmer.

Egon Günther lacht. Er trägt eine Brille.
Legende: Viele von Egon Günthers Filmen sind verboten worden – nicht nur «Ursula». Keystone

Seine anderen Filme, die Gegenwartsstoffe behandeln, haben oft einen experimentellen Zugriff. Der Regisseur ist mit Andrei Tarkowski befreundet. Die absurde Bilderwelt des russischen Avantgardisten fliesst stark in Günthers Filme ein.

Die Genossen in der Zensurabteilung beschäftigen sich immer wieder mit Günthers Filmen. Sie werden verboten und verschwinden wie «Ursula» im Giftschrank.

Billig und gut – zu welchem Preis?

Das Schweizer Fernsehen hat in der Koproduktion mit der DDR vor allem ein Interesse: Man hofft für wenig Geld auf gute Qualität. Es kommt anders.

Der Skandal schlägt hohe Wellen. Das Budget wird weit überzogen. Statt der erhofften Diskussion über die Rolle Zwinglis und der Täufer konzentriert sich der Volkszorn auf nackte Hintern. Die Kombination von Reformationsgeschichte und sexualisierten Bildern hat den damaligen Nerv der Zeit über die Massen strapaziert.

Sendebezug: SRF 1, Sternstunde Kunst, 29.10.2017, 11.55 Uhr.

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