«I Have a Dream.» Diese Worte waren im Manuskript eigentlich nicht vorgesehen. Und doch machten genau sie Martin Luther King weltberühmt. Sie fielen gegen Ende seiner Rede am 28. August 1963.
Afroamerikanische Bürgerrechtsgruppen, der American Jewish Congress und diverse christliche Gruppierungen hatten zum Marsch nach Washington aufgerufen. Eine Viertelmillion Menschen waren ihnen gefolgt. Es war eine der grössten politischen Veranstaltungen der US-Geschichte.
Ein paar Monate später reiste der Baptistenpastor nach Oslo, um als damals jüngster Preisträger überhaupt den Friedensnobelpreis entgegenzunehmen. Im Juli 1964 wurde die Rassentrennung in den USA schliesslich formal für beendet erklärt.
«Für viele Weisse und den damaligen Präsidenten Lyndon B. Johnson war die Sache damit erledigt», erklärt die Filmemacherin Barbara Necek, die eine Doku über den Bürgerrechtsaktivisten gedreht hat. Nicht so für King. «Wozu dient das Recht, dieselben Restaurants zu betreten wie die Weissen, wenn man sich keine Mahlzeit leisten kann?», fragte er.
Skandinavien als grosses Vorbild
Der Pastor war fasziniert vom skandinavischen Gesellschaftsmodell, das allen soziale Teilhabe ermöglicht: «Sowohl in Norwegen als auch in Schweden gibt es keine Arbeitslosigkeit und keine Slums. Ihre Männer und Frauen kommen in den Genuss kostenloser medizinischer Versorgung und hochwertiger Bildung», schreibt er in seiner Autobiografie.
Er träumte von einer echten Umverteilung.
«King war sicherlich kein Marxist», so Necek, aber er teilte Marx’ antikapitalistische Haltung. «Er träumte von einer echten Umverteilung des Reichtums, von einem US-amerikanischen Sozialismus.»
Der Pastor wurde nicht müde zu betonen, dass es nicht reiche, den Menschen ihre Würde zurückzugeben. Sie müssten auch Jobs bekommen und am Konsum teilhaben können. Ansonsten würde es immer wieder zu Aufständen der Benachteiligten kommen.
Abstieg im Armenviertel
Aus den eigenen Reihen wurde King gelegentlich vorgeworfen, als gebildeter Intellektueller hätte er keine Ahnung von den wahren Ängsten und Bedürfnissen der Ghettobewohner. Doch 1966 zog der Pastor mit seiner Familie in ein armes Quartier der damals drittgrössten Stadt der USA, nach Chicago.
«Bereits nach wenigen Tagen sahen wir eine Veränderung in unseren Kindern», verrät King in seiner Autobiografie. Sie wurden schnell wütend. Die enge Wohnung, stellte er fest, barg ein emotionales Sprengpotenzial in sich.
Auch für Kings Karriere hatte Chicago Sprengpotenzial. Von nun an ging es bergab. Bisher hatten er und seine Mitstreitenden auf Aktionen des zivilen Ungehorsams gesetzt. Sie hatten sich in Restaurants, Busse und Bahnhöfe gesetzt, die Weissen vorbehalten waren, um sich dann wegzerren und in Gefängnisse stecken zu lassen, die bald aus allen Nähten platzten.
Diese Strategie, die Martin Luther King und seine Mitstreitenden über viele Jahre erfolgreich praktizierten, funktionierte jedoch nicht mehr, da die Rassentrennung inzwischen offiziell aufgehoben war.
Also organisierten die Bürgerrechtler Protestmärsche in den ebenfalls von Armut betroffenen Weissenvierteln von Chicago. «King wollte alle mit ins Boot holen, also auch die weissen Einwanderer aus Europa, etwa Iren, Italiener oder Polen. Der Rassenkampf wurde zum Klassenkampf», sagt Barbara Necek.
Unverblümter weisser Rassismus
Doch die weisse Unterschicht hatte kein Interesse, sich mit den protestierenden Schwarzen zu verbrüdern. Stattdessen wurden diese «von einem Hagel von Ziegelsteinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern empfangen», wie King in seiner Autobiografie schreibt.
Viele schwenkten Nazi-Fahnen, trugen Hakenkreuze und beschimpften die Demonstrierenden, darunter viele Priester und Nonnen, mit üblen Obszönitäten. «Ich war schockiert, als ich diese Archivbilder sah», erzählt Filmemacherin Barbara Necek, «und wie drastisch und unverblümt der weisse Rassismus – auch im Norden der USA – zur Schau getragen wurde». Die Weissen, die sich gerade erst hochgearbeitet hatten, wollten offenbar nichts mit den Schwarzen zu tun haben, die noch weiter unten auf der Leiter standen als sie selbst.
Trotz dieser und weiterer Niederlagen war King überzeugt, dass der Schulterschluss der Armen am Ende gelingen würde. Doch er sollte sich irren.
Das weisse Amerika sah im Fernsehen, wie die eigenen Leute von der Polizei hart angegangen wurden, obwohl diese vermeintlich nur ihr Viertel schützen wollten. Kings Protestmärsche wurden als Angriff auf den amerikanischen Traum gewertet. Es sei ein trauriges Paradox, resümiert Necek: «Anstatt sich über den weissen Rassismus zu empören, gibt man der schwarzen Bevölkerung die Schuld an ihrem eigenen Elend.»
Der gescheiterte Marsch der Armen
Zudem legte sich King mit Lyndon B. Johnson an. Nachdem der überzeugte Pazifist zwei Jahre lang zum Einmarsch der USA in Vietnam geschwiegen hatte, liess er im April 1967 jede Zurückhaltung fallen. Er empörte sich öffentlich über die Tatsache, dass die USA weisse und schwarze Soldaten dazu zwang, «gemeinsam für eine Nation zu töten und zu sterben, die nicht in der Lage war, sie gemeinsam in dieselben Schulen zu schicken.»
King, der sich nun als demokratischer Sozialist bezeichnete, wollte eine Bewegung ins Leben rufen, die nicht nur für politische, sondern auch für wirtschaftliche Freiheit für alle kämpfen konnte. Die sogenannte Poor People’s Campaign sollte erneut nach Washington marschieren, um konkrete Massnahmen gegen die Armut zu fordern: Arbeitsplätze, Wohnungen und ein Mindesteinkommen für alle.
Doch King erlebte diesen Marsch nicht mehr. Am 4. April 1968 wurde er von einem Vertreter der weissen Vorherrschaft in Memphis erschossen.
Drei Monate nach seinem Tod versammelten sich Weisse, Hispanics, Schwarze und Indigene zwar zu einem «Marsch der Armen». Doch es kamen nur wenige Tausend.
Aufstieg der Black Panthers
Martin Luther Kings Zeit wäre aber ohnehin vorbei gewesen, so der Schweizer Al Imfeld, der in den 1960er-Jahren als angehender Theologe einige Jahre für King arbeitete: «Er sah, wie sein Einfluss schwand, vor allem unter der schwarzen Bevölkerung der Nordstaaten. Und er war tief schockiert, dass radikalere, gewaltbereite Gruppen wie die Black Panthers grossen Zulauf hatten.»
Für jemanden, der seine Kraft und Überzeugung nicht zuletzt aus dem gewaltlosen antikolonialen Kampf Mahatma Gandhis schöpfte, muss diese zunehmende Radikalisierung der afroamerikanischen Bevölkerung ein Schock gewesen sein, bestätigt Barbara Necek: «King war ein aussergewöhnlicher Mensch, ausgestattet mit Charisma, rhetorischem Talent und spiritueller Kraft. Und er war ein ‹Guter›, von denen gibt es gar nicht mal so viele in der Weltgeschichte.»