Vier Jahre dauert die Flucht von Sonam Sewo. Zuerst ist der kleine Sonam mit seiner Sippe in den hohen Bergen des Himalayas unterwegs. Den Hausrat und ganze Tierherden haben sie dabei. Als Nomadenvolk sind sie das Unterwegssein gewohnt. Nun mischt sich aber Angst und Unsicherheit dazu.
Spätestens seit dem Aufstand von Tibeterinnen und Tibetern 1959 in Lhasa gegen die chinesische Volksbefreiungsarmee sind sie nicht mehr sicher. Mindestens 87'000 Menschen werden von den Chinesen umgebracht.
Zwischenstation Indien
Bis zur Grenze zwischen Nepal und Indien haben Sonam Sewo und seine Sippe alle Tiere dabei. Dann wird es zu mühselig, der Weg ist zu schmal. Sie müssen die Tiere, ihre Lebensgrundlage, verkaufen. Und: Die blinde Grossmutter kann nicht weiter per Pferd mitkommen. Sie muss in Nepal zurückbleiben. Mit ihr die ganze Familie, bis die Grossmutter stirbt.
Später reist die Familie nach Indien und erlebt weitere Schicksalsschläge. Schliesslich bleibt sie in Darjeeling und lebt in einfachsten Verhältnissen. Die Eltern arbeiten im Strassenbau, die Kinder betteln und besuchen eine Tibeterschule.
Aufbruch in die unbekannte Schweiz
Die Schweiz nimmt als erstes Land weltweit tibetische Geflüchtete auf. Das IKRK (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) lanciert 1961 eine umfangreiche Hilfsaktion. Daran beteiligt sich auch das Schweizerische Rote Kreuz – mit einem Kontingent von 1000 Geflüchteten. Sonam Sewos Familie meldet sich: «Mein Vater sagte, schlimmer kann es nicht werden.»
Im Dezember 1963 landen sie in der Schweiz. Schon im Januar kommt Sonam Sewo zur Schule. Er spricht weder Deutsch, noch kennt er die Kultur. Ein happiges Ankommen in der neuen Heimat. «Mit der Zeit und dank den Kindern ging es irgendwann», erinnert sich der heute 74-Jährige.
Gewohnt haben er und andere tibetische Familien im sogenannten Tibeterheim in Münchwilen. Es war das siebte von insgesamt 15 dieser Art schweizweit. «Humanitäre Hilfe, auf die man heute stolz sein kann», hält Tochter Tsering Sewo fest.
Zwischen Integration und Assimilation
Anlässlich des 60-Jahre-Jubiläums ist sie nochmals tief in die Geschichte ihres Vaters eingetaucht. «Früher schaute ich mir oft alte Fotos meiner Eltern an, bewunderte ihre Schlaghosen und hübschen Blusen. Ich dachte, sie fanden die Kleider toll.» Zwar gefiel ihrem Vater die Kleidung. Das war aber längst nicht bei allen so.
Tsering Sewo führte auch Gespräche mit anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Dabei habe sie realisiert, dass manche Frauen darunter gelitten haben, sich dem Dorfbild anzupassen und ihre tibetischen Trachten abzulegen. «Erst jetzt konnten sie über diese Gefühle sprechen», erzählt sie.
Es ist ein Stück Heimat, das ich mir in Gedanken ausgemalt habe.
Die tibetische Tracht zieht Tsering Sewo zu feierlichen Anlässen oder für politische Kundgebungen an. Ihre kleine Tochter tut es ihr gleich, «sie mag die vielen Farben». Der jungen Mutter ist es wichtig, dass ihre Kinder Tibetisch lernen. Denn: «Während meiner Jugend gab es eine Zeit, in der ich nicht mehr so gut Tibetisch sprechen konnte. Da fehlte mir etwas».
Tibet kennt Tsering Sewo nur aus Erzählungen: «Es ist ein Stück Heimat, das ich mir in Gedanken ausgemalt habe. Ich bin mir bewusst, dass ich es so nie erleben oder sehen werde.» Eines Tages würde sie gerne einmal nach Tibet. Doch im Moment fühle sie sich dort nicht sicher genug und will als Mutter zweier Kinder kein Risiko eingehen.