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60 Jahre Tibet in Münchwilen «Tibet kenne ich nur aus Erzählungen»

Tsering Sewo ist in der Schweiz aufgewachsen. Vor 60 Jahren floh ihr Vater von Tibet hierher. Sie taucht anlässlich des Tibeterheim-Jubiläums in die Geschichte ihres Vaters ein.

Vier Jahre dauert die Flucht von Sonam Sewo. Zuerst ist der kleine Sonam mit seiner Sippe in den hohen Bergen des Himalayas unterwegs. Den Hausrat und ganze Tierherden haben sie dabei. Als Nomadenvolk sind sie das Unterwegssein gewohnt. Nun mischt sich aber Angst und Unsicherheit dazu.

Spätestens seit dem Aufstand von Tibeterinnen und Tibetern 1959 in Lhasa gegen die chinesische Volksbefreiungsarmee sind sie nicht mehr sicher. Mindestens 87'000 Menschen werden von den Chinesen umgebracht.

Eine kurze Geschichte Tibets

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Tibet war lange Zeit eine autonome Region. Sie stand unter dem Schutz von mongolischen und chinesischen Dynastien. Als die chinesische Kaiserzeit endete, erklärte sich Tibet 1911 als unabhängig. Diese Unabhängigkeitserklärung ist bis heute umstritten.

In den 1950ern annektierte China Tibet, siedelte chinesische Bauern an und verschleppte Hunderttausende in Arbeitslager. Tempel und religiöse Güter wurden zerstört. 1959 flüchtete der Dalai Lama nach Indien, nach Dharamsala. Bis heute lebt er dort.

Schätzungen zufolge sind zwischen 1959 und 1979 mehr als eine Million Tibeterinnen und Tibeter ermordet worden. Die Verhandlungen über ein unabhängiges oder autonomes Tibet kommen nicht voran.

Seit 2019 führt Peking grossangelegte Bildungs- und Arbeitsprogramme in Tibet durch. Sie sollen offiziell gegen Armut helfen. Sie dienen jedoch häufig der kulturellen Assimilation oder sozialen Kontrolle.

Zwischenstation Indien

Bis zur Grenze zwischen Nepal und Indien haben Sonam Sewo und seine Sippe alle Tiere dabei. Dann wird es zu mühselig, der Weg ist zu schmal. Sie müssen die Tiere, ihre Lebensgrundlage, verkaufen. Und: Die blinde Grossmutter kann nicht weiter per Pferd mitkommen. Sie muss in Nepal zurückbleiben. Mit ihr die ganze Familie, bis die Grossmutter stirbt.

Später reist die Familie nach Indien und erlebt weitere Schicksalsschläge. Schliesslich bleibt sie in Darjeeling und lebt in einfachsten Verhältnissen. Die Eltern arbeiten im Strassenbau, die Kinder betteln und besuchen eine Tibeterschule.

Aufbruch in die unbekannte Schweiz

Die Schweiz nimmt als erstes Land weltweit tibetische Geflüchtete auf. Das IKRK (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) lanciert 1961 eine umfangreiche Hilfsaktion. Daran beteiligt sich auch das Schweizerische Rote Kreuz – mit einem Kontingent von 1000 Geflüchteten. Sonam Sewos Familie meldet sich: «Mein Vater sagte, schlimmer kann es nicht werden.»

schwarzweiss-Aufnahme mehrere Kinder und hinten Erwachsene stehend, halten Plakat «Welcome to Switzerland»
Legende: Tibeterinnen und Tibeter, die in der Schweiz Asyl erhalten haben, begrüssen am 29. August 1966 im Flughafen Kloten eine Gruppe tibetischer Neuankömmlinge. KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Grunder

Im Dezember 1963 landen sie in der Schweiz. Schon im Januar kommt Sonam Sewo zur Schule. Er spricht weder Deutsch, noch kennt er die Kultur. Ein happiges Ankommen in der neuen Heimat. «Mit der Zeit und dank den Kindern ging es irgendwann», erinnert sich der heute 74-Jährige.

Jubiläumsfest – 60 Jahre Tibet in Münchwilen

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Das Tibeterheim in Münchwilen wurde vom Industriellen Alfred Sutter und seinem Freund Brupbacher, Direktor der Textilfabrik Tüll, erbaut und finanziert.

Sutter hatte bereits Beziehungen zu Tibet, weil er als Bergsteiger im Himalaya unterwegs war. Man wollte helfen und war froh, neue tüchtige Mitarbeitende zu gewinnen.

Bei der Tüll hat Sonam Sewo nach seiner Anlehre bis zur Pensionierung in verschiedenen Funktionen gearbeitet.

Am Samstag, den 30. September 2023 feiert er zusammen mit der Tibeter Gemeinschaft Schweiz und Liechtenstein ein grosses Jubiläumsfest zu 60 Jahren Tibet in Münchwilen.

Gewohnt haben er und andere tibetische Familien im sogenannten Tibeterheim in Münchwilen. Es war das siebte von insgesamt 15 dieser Art schweizweit. «Humanitäre Hilfe, auf die man heute stolz sein kann», hält Tochter Tsering Sewo fest.

Zwischen Integration und Assimilation

Anlässlich des 60-Jahre-Jubiläums ist sie nochmals tief in die Geschichte ihres Vaters eingetaucht. «Früher schaute ich mir oft alte Fotos meiner Eltern an, bewunderte ihre Schlaghosen und hübschen Blusen. Ich dachte, sie fanden die Kleider toll.» Zwar gefiel ihrem Vater die Kleidung. Das war aber längst nicht bei allen so.

Zwei Männer, der rechts trägt ein tibetisches Gewand und eine Sonnenbrille, der andere Mann schüttelt ihm die Hand
Legende: Sonam Sewo (links) mit dem Dalai Lama, als dieser zu Besuch in der Schweiz war. SRF

Tsering Sewo führte auch Gespräche mit anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Dabei habe sie realisiert, dass manche Frauen darunter gelitten haben, sich dem Dorfbild anzupassen und ihre tibetischen Trachten abzulegen. «Erst jetzt konnten sie über diese Gefühle sprechen», erzählt sie.

Es ist ein Stück Heimat, das ich mir in Gedanken ausgemalt habe.
Autor: Tsering Sewo

Die tibetische Tracht zieht Tsering Sewo zu feierlichen Anlässen oder für politische Kundgebungen an. Ihre kleine Tochter tut es ihr gleich, «sie mag die vielen Farben». Der jungen Mutter ist es wichtig, dass ihre Kinder Tibetisch lernen. Denn: «Während meiner Jugend gab es eine Zeit, in der ich nicht mehr so gut Tibetisch sprechen konnte. Da fehlte mir etwas».

Ein alter Mann mit Brille und eine junge Frau mit langen Haaren
Legende: Sonam Sewo (links) mit seiner Tochter Tsering vor einer Kopie der Urkunde, die der Dalai Lama für den Friedensnobelpreis erhielt. Sonam kam vor 60 Jahren in die Schweiz, sie wuchs hier auf. SRF

Tibet kennt Tsering Sewo nur aus Erzählungen: «Es ist ein Stück Heimat, das ich mir in Gedanken ausgemalt habe. Ich bin mir bewusst, dass ich es so nie erleben oder sehen werde.» Eines Tages würde sie gerne einmal nach Tibet. Doch im Moment fühle sie sich dort nicht sicher genug und will als Mutter zweier Kinder kein Risiko eingehen.

Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 24.09.2023, 08:30 Uhr

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