Vor 70 Jahren, am 14. Mai 1948, wurde der Staat Israel gegründet. Amos Oz, preisgekrönter und wohl bedeutendster Schriftsteller Israels, wird 1939 in Jerusalem geboren, das damals noch Teil des britischen Mandatsgebietes Palästina ist.
Mit neun Jahren erlebt Oz den Bürgerkrieg zwischen jüdischen und arabischen Truppen und die darauf folgende Staatsgründung Israels.
Yves Bossart spricht mit dem Schriftsteller über den Konflikt zwischen Israeli und Palästinensern, über seelische Narben, wohlmeinende Fanatiker und über die friedensstiftende Kraft der Literatur.
SRF: 70 Jahre Israel. Ist das für Sie ein Grund zum Feiern?
Amos Oz: Ja, denn ich bin alt genug, um zu wissen, wie es hier in Israel vorher war. Es war kein Paradies, weder für die arabischen Palästinenser noch für die Juden. Es war ein gespaltenes und zerstrittenes Land. Diese Probleme sind nicht gelöst, aber wir Juden haben heute eine Perspektive, die mein Volk jahrtausendelang nicht hatte.
Glauben Sie noch an eine Lösung des Konflikts?
Es ist unrealistisch, dass diese beiden Völker, die einander hassen und bis aufs Blut bekämpfen, plötzlich Flitterwochen feiern und Liebe statt Krieg machen. Das geht nicht.
Wir müssen dieses kleine Land in zwei Teile aufteilen, um den Israelis und den Palästinensern ein friedliches und gewaltfreies Zusammenleben zu ermöglichen. Beide Völker benötigen gewissermassen ihre eigene Wohnung: einen Ort, an dem sie zu Hause sind.
Ist eine solche Zweistaatenlösung überhaupt noch realisierbar? Was geschähe mit den israelischen Siedlungen und mit den mittlerweile etwa fünf Millionen palästinensischen Flüchtlingen?
Es gibt viele praktische Probleme. Aber glauben Sie mir, es geht hier um das Leben, nicht um den Tod.
Der Nahostkonflikt ist kein religiöser Konflikt.
Die Heimat zu verlieren, ist eine Tragödie, aber nicht vergleichbar mit dem Verlust des Lebens. Lieber würde ich Millionen Male meine Heimat verlieren als eines meiner Kinder.
Von welchem Israel träumen Sie?
Ich möchte erstens: Frieden mit den Nachbarn. Zweitens: eine pluralistische Gesellschaft, die intellektuell tief gespalten sein mag, aber total gewaltfrei ist.
Ich möchte, dass dieses Land ein Freiluftseminar wird. Eine Nation mit neun Millionen Einwohnern, Juden und Arabern, neun Millionen Premierministern, neun Millionen Propheten. Diese Idee gefällt mir.
Welche Rolle spielt die Religion in dem Konflikt?
Der Nahostkonflikt ist kein religiöser Konflikt. Es geht um Grundbesitz. Die Palästinenser sagen, es sei ihr Land. Und sie haben recht. Die israelischen Juden sagen, es sei ihr Land. Und sie haben auch recht.
Der Fanatiker ist oft ein Altruist
Die Lösung ist daher ein Kompromiss. Kompromissbereitschaft ist sozusagen meine Religion.
Fanatikern fehlt diese Kompromissbereitschaft. Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Wurzeln des Fanatismus ?
Ich denke, Fanatismus ist ein schädliches Gen, das fast alle Menschen besitzen. Oft manifestiert es sich im Drang, andere zu ihrem Besten ändern zu wollen.
Der Fanatiker ist oft ein Altruist. Er will Ihre Seele retten. Sollte sich herausstellen, dass es unmöglich ist, Ihre Seele zu retten, wird er Sie erwürgen. Zu Ihrem Besten.
Welche Rolle spielen Angst und Wut?
Angst und Wut wirken wie Öl aufs Feuer. Oft bekämpfen wir jemanden oder etwas, weil wir den Menschen oder die Situation nicht kennen, weil wir Angst haben.
Wir fürchten ausserdem, dass man uns beeinflussen könnte. Wir haben Angst, dass die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden unsere Ansichten oder unsere Gewohnheiten verändern könnte.
Wie schützen wir uns vor Fanatismus?
Mit Humor. Ich habe noch nie einen Fanatiker gesehen, der Sinn für Humor gehabt hätte – oder einen Menschen mit Sinn für Humor, der Fanatiker geworden wäre. Wer Sinn für Humor hat, ist fähig, über sich selbst zu lachen, sich selbst aus dem Blickwinkel anderer zu betrachten.
Humor als Waffe gegen Fanatismus. Wie stellen Sie sich das vor?
Manchmal denke ich, wenn ich den Sinn für Humor in Kapseln abfüllen und die Menschen so gegen Fanatismus immun machen könnte, hätte ich den Nobelpreis für Medizin verdient.
Aber Moment: Was versuche ich hier gerade? Sollen andere meine Humorkapseln zu ihrem Wohl schlucken? Will ich sie ändern, damit sie werden wie ich? Man kann sich bei der Bekämpfung des Fanatismus leicht damit anstecken.
Sie sprechen den Fanatikern nicht nur den Humor ab, sondern auch die Vorstellungskraft. Warum?
Es ist leicht, die Faust zu erheben und zu schreien: «Diese Menschen müssen vernichtet werden.» Wenn man sich aber vorstellt, man müsse ein fünfjähriges Mädchen erwürgen, wird es plötzlich sehr schwierig. Deshalb glaube ich an die Neugier. Sie ist ein weiteres Mittel gegen Fanatismus.
Wie meinen Sie das?
Ein neugieriger Mensch stellt sich die einfache Frage: Was, wenn ich dieser Mann oder diese Frau wäre? Was, wenn ich, Amos Oz aus Israel, ein junger Palästinenser wäre? Diese Art von Neugier ist mein Leben. Ich spioniere Fremden nach, ich stelle mir ihre Geschichten vor.
Ist diese Neugier auch die Grundlage Ihres literarischen Schaffens?
Literatur und Klatsch sind ja miteinander verwandt. Sie entstammen beide der Neugierde, mit einem Unterschied: Klatsch entsteht aus dem Drang, den Nachbarn durchs Fenster zu beobachten, um herauszufinden, was er treibt.
Der Tod ist kompromisslos. Er ist endgültig, absolut. Der Tod ist ein Fanatiker.
Die Literatur bietet uns etwas Besseres, nämlich die Chance, die Welt durch das Fenster des Nachbarn zu sehen. Man kann sogar am Fenster des Nachbarn stehen und sich selber sehen, wie man den Nachbarn beobachtet. Das empfinde ich als wunderbares Geschenk.
Macht uns Neugier kompromissbereiter?
Ich denke schon. Fanatiker und Idealisten verabscheuen Kompromisse. In ihren Augen sind sie hässlich und unehrlich. In meiner Sprache dagegen ist der Kompromiss ein Synonym für Liebe. Das Gegenteil von Kompromiss ist nicht Idealismus und Hingabe, sondern Fanatismus und Tod.
Einzig der Tod ist kompromisslos. Er ist endgültig, absolut. Der Tod ist ein Fanatiker. Aber das Leben ist voller Kompromisse. Um die Schönheit von Kompromissen zu vermitteln, muss man den Menschen nur klarmachen, dass unser Leben aus Kompromissen besteht.
Sie wurden 1939 in Jerusalem geboren, als Sohn jüdischer Einwanderer aus der Ukraine, und blicken heute auf ein reiches Leben zurück, mit vielen Schicksalsschlägen und Wendungen. Die prägendste Erfahrung machten Sie wohl in Ihrer Jugend: Ihre Mutter nahm sich das Leben, als Sie 12 Jahre alt waren. Wie hat Sie dieses schreckliche Erlebnis verändert?
Eine Zeit lang war ich total verzweifelt. Denn ich dachte: Wenn sich meine Mutter umgebracht hat, heisst das, dass sie mich nicht geliebt hat. Wenn nicht mal meine Mutter mich lieben konnte, bin ich nicht liebenswert.
Ich hasste sie, weil sie sich das Leben genommen hatte. Als wäre sie mit einem Liebhaber durchgebrannt. Es brauchte viel Zeit, bis ich Wut, Einsamkeit und Verzweiflung durch Neugier, Mitgefühl und Humor ersetzen konnte.
Drei Jahre nach dem Suizid Ihrer Mutter, mit 15 Jahren, zogen Sie von zu Hause aus und gingen in ein Kibbuz, in eine ländliche Kommune. Was haben Sie da gesucht?
Es war eine Rebellion gegen meinen Vater. Ich ging von zu Hause weg, weil ich alles werden wollte, was er nicht war und nichts, was er war. Er war ein rechtsgerichteter intellektueller Schriftsteller. So beschloss ich, ein linker sozialdemokratischer Lastwagenfahrer zu werden.
Ich wollte einfach das Gegenteil von ihm werden. Doch dann lebte ich 30 Jahre in einer Kibbuz-Gemeinschaft. Das war für mich in vielerlei Hinsicht die beste Schule, um die menschliche Natur zu studieren.
Warum?
Es war ein kleines Dorf mit rund 400 Menschen. Es gab keine Geheimnisse. Ich wusste alles über die Bewohner, auch die intimsten Dinge. Für einen Schriftsteller ist das eine wunderbare Vorbereitung und Bildung.
Es kommt nicht von ungefähr, dass die Juden nie einen Papst hatten.
Ich habe Menschen in ihren besten und schlimmsten Zeiten erlebt. Ich kannte sie in- und auswendig. Die Kibbuz-Erfahrung hat mich zu dem Schriftsteller gemacht, der ich bin.
Sie setzten sich in Ihrer Literatur nicht nur mit dem Menschsein auseinander, sondern auch mit dem Jüdischsein. Was ist für Sie das Herz der jüdischen Kultur?
Kurz zusammengefasst würde ich sagen, dass wir eine Kultur des Zweifelns und der Debatte pflegen: schwierige Fragen stellen, nichts als gegeben betrachten. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Juden nie einen Papst hatten, gar keinen haben könnten.
Es ist ein anarchistisches Gen, das die Juden seit tausenden Jahren in sich tragen. Kein Wunder haben viele berühmte Juden wie Abraham, Moses, Jesus, Freud, Kafka, Spinoza, Marx und Einstein eine Gemeinsamkeit: eine teenagerartige Rebellion gegen eine sehr mächtige Vaterfigur.
Das Gespräch führte Yves Bossart.