Israel feiert seinen 70. Geburtstag. Am 14. Mai 1948 verlas der Staatsgründer David Ben Gurion die Unabhängigkeitserklärung Israels.
Was würde Theodor Herzl heute über sein Land sagen? Der Schriftsteller und Philosoph wurde zum Vater der jüdischen Befreiungsbewegung, die vor 70 Jahren zur Gründung des Staates Israel führte.
Der Historiker Michael Brenner über den Mann, der mit seinem Buch «Der Judenstaat» vor über 130 Jahren die Grundlage dafür geliefert hatte.
SRF: Wie würde Herzl heute auf Israel schauen?
Michael Brenner: Einiges würde ihm wohl sehr gut gefallen, anderes weniger. Wenn er nach Tel Aviv käme, sähe er eine moderne, eine europäische Stadt, in der viele verschiedene Kulturen zu Hause sind. Das war schon ein bisschen in seiner Absicht. Jerusalem wäre ihm wahrscheinlich zu religiös.
Herzl mochte Jerusalem bei seinem einzigen Besuch in Israel, damals noch Palästina natürlich, tatsächlich nicht besonders. Heute würde ihm wohl auch nicht so gut gefallen, dass man da Hebräisch spricht. Denn Herzl dachte, man spräche Deutsch, Englisch und Französisch. Er selbst konnte kein Hebräisch.
Theodor Herzl hat sich gedacht, die arabische Bevölkerung Palästinas würde die Juden mit offenen Armen begrüssen.
Sicher gut gefallen würde ihm, dass es sehr viel Hightech-Industrie gibt. Herzl war jemand, der mit allen Neuerungen der Moderne liebäugelte und sie in seinen Judenstaat einbringen wollte.
Wurde Herzls Vision für seinen Judenstaat überhaupt mal realisiert?
Wie er sie in seinem Buch von 1896 dargestellt hat, wäre sie auch unter den besten Umständen sehr schwer umzusetzen gewesen.
Herzl hat sich ja auch gedacht, die arabische Bevölkerung Palästinas würde die Juden mit offenen Armen begrüssen, weil sie so viel Zivilisation in den Orient bringen würden – und die Wüste zum Blühen.
Herzl war Pessimist, was die Situation der Juden in Europa betraf.
Wie kann man das ablehnen? Das war natürlich auch damals schon ein bisschen blauäugig. Einige Kritiker innerhalb der zionistischen Bewegung haben ihm das auch vorgeworfen.
Aber er schrieb einen wichtigen Satz in sein Tagebuch 1897 – anlässlich des ersten Zionisten Kongresses. Er schrieb: Wenn nicht in fünf, dann in 50 Jahren wird es diesen Staat geben. Und fügte hinzu: Ich traue mich das aber gar nicht laut zu sagen, denn dann werde ich nur verlacht. Schliesslich hat es 51 Jahre gedauert.
Vorher gab es aber den Holocaust – und das hat wohl nicht nur Theodor Herzls Vorstellungskraft überfordert.
Das konnte sich – das muss man ganz offen sagen – niemand vorher vorstellen. Ein Völkermord dieser Dimension und vor allem dieser Art war bis dahin ohne Beispiel.
Für Herzl hat die Religion vielleicht eine symbolische Rolle gespielt.
Herzl war Pessimist, was die Situation der Juden in Europa betraf. Auch seine Nachfolger innerhalb der zionistischen Bewegung waren durchaus Pessimisten in dem Sinne, dass sie eben nicht meinten, Juden hätten eine Zukunft in Europa.
Aber dass es einen Massenmord dieser Dimension geben würde, das haben weder Herzl noch seine Nachfolger erahnen können.
Sie haben es schon angesprochen: Für Herzl hatte die Religion ja gar keine Rolle gespielt – heute ist die israelische Gesellschaft genau wegen der Rolle der Religion gespalten. Wie ist es denn so weit gekommen?
Für Herzl hat die Religion vielleicht eine symbolische Rolle gespielt. Aber er selbst war säkular – wie alle führenden Zionisten bis zur Staatsgründung und auch noch in den ersten Jahrzehnten der Staatsgründung Israels.
Wie das gekommen ist? Schon der Gründer des Staates, der erste Ministerpräsident David Ben Gurion, der ein säkularer Sozialist war, machte den Religiösen gegenüber Zugeständnisse. Weil er meinte: Das ist so eine kleine Minderheit, die sind symbolisch für uns wichtig, aber die werden uns säkularen Juden nicht gefährlich werden.
Er hat sich aber getäuscht, weil er die Demographie übersehen hat. Die Tatsache also, dass religiöse und vor allem ultraorthodoxe Juden viel mehr Kinder haben. Die durchschnittliche Kinderzahl der Ultraorthodoxen liegt fast bei sieben. Da kann man sich vorstellen, dass sich die Bevölkerungsverteilung rasant verändert.
In Israel wird aber zurzeit auch heftig darüber gestritten, dass in der Verfassung explizit festgeschrieben werden soll, dass Israel ein jüdischer Staat sei. Hat diese Diskussion überhaupt noch irgendetwas zu tun mit Herzls Judenstaat?
Das kommt natürlich darauf an, was man darunter versteht. Ich denke schon, dass auch Netanyahu und zumindest ein Teil der jetzigen Regierung unter dem Titel Jüdischer Staat keinen religiösen Staat verstehen, sondern einen Staat des jüdischen Volks. Und das ist natürlich nicht ganz so weit entfernt von dem, was Herzl wollte. Das hat heute aber ganz andere politische Vorzeichen.
Herzl hat 1896/1897 gedacht, seine Gesellschaft sei offen für alle. Natürlich muss man sagen: Auch der jüdische Staat, so wie es dieser Gesetzesentwurf eventuell vorsehen würde, ist offen für alle. Und er ist trotzdem noch offener für alle anderen Minderheiten als es sonst irgendein Staat im Nahen Osten ist.
Was zeichnet den israelischen Staat denn in Ihren Augen nach wie vor aus?
Die Vielfalt, die Gegensätze, die zum einen viel Sprengkraft in sich beherbergen und zum anderen aber auch sehr viel Lebenskraft, sehr viel positive Spannung.
Wenn Sie in Tel Aviv oder in Jerusalem sind, haben Sie nie das Gefühl, diese Gesellschaft stehe still. Die Gesellschaft bewegt sich nach vorne. Israel wird ja oft die Start-up Nation genannt. Es gibt pro Bevölkerungsanteil die meisten Startup-Unternehmen. Es ist eines der führenden Länder in der IT-Branche.
Aber es gibt auch ein spannendes kulturelles Leben in Israel. Ein anderer Aspekt, der in den letzten beiden Jahrzehnten wichtig wurde, ist die ganze Food-Szene. Das Essen in Israel, auch das Trinken, die Weine: All das hat einen Riesenschritt nach vorne gemacht und zeigt natürlich auch den spannenden Alltag in Israel.
Und das würde Theodor Herzl vermutlich wieder sehr gefallen.
Das würde ihm sehr gefallen. Er würde sich in dieser Beziehung sehr wohl fühlen. Ich denke auch, es wäre für ihn natürlich wichtig zu sehen, dass diese Gesellschaft nicht nur durch den Konflikt und den Nahostkonflikt geprägt ist. Und dass das Alltagsleben der Menschen dort eben oft auch ganz anders aussieht, als wir das in unseren Nachrichtensendungen mitbekommen.
Das Gespräch führte Barbara Büttner.