Bereits am ersten Tag der Revolution gehen einige Demonstranten mit Sprühdosen auf die Strasse. Zu diesem Zeitpunkt ahnt wohl noch kaum jemand von ihnen, welch grosses Tabu sie brechen werden. Worüber man bisher nicht sprach, sprühen sie schon kurz darauf unter dem frenetischen Beifall Hunderter auf Plakate und Häuserwände: «Das Volk will den Sturz des Regimes.»
Panzer werden mit Schlachtrufen besprüht
Als die Mauern der Angst fallen, gibt es für die vielen, lang unterdrückten Gedanken und Ideen kein Halten mehr. Diskussionen, Slogans, Lieder und Graffiti überfluten die Strassen Ägyptens. Ob mit Kugelschreiber, Filzstift oder Sprühdose geschrieben, jeder scheint etwas auf dem Herzen zu haben, das wichtig genug ist, um von allen gelesen zu werden.
Die Menschen schreiben über Freiheit und Würde, gegen Folter und Ungerechtigkeit oder über fehlende Arbeit und die zu hohen Brotpreise. An manchen Plätzen stehen die Forderungen der Menschen bald in mehreren Schichten an den Wänden. Selbst die Panzer, die auf den Tahrir-Platz rollen, werden sogleich mit Schlachtrufen wie «Nieder mit Mubarak» besprüht.
Revolutionäre Künstler machen sich ans Werk
Neben den vielen ganz gewöhnlichen Menschen, die an Wände kritzeln, sind von Anfang an auch Künstler dabei. Als sich für 18 Tage der utopische Kleinstaat Tahrir etabliert, versucht jeder, je nach Talent und Können, die Revolution zu unterstützen: Künstler, Kalligrafen und Designer machen sich ans Werk und beschriften Protestschilder, bemalen riesige Banner, zeichnen Karikaturen und bauen Skulpturen. Schablonenkunst, so genannte Stencils, tauchen auf. Und die ersten aufwändigeren Graffiti entstehen an den Wänden der angrenzenden Strassen oder direkt auf dem Asphalt des Tahrir-Platzes.
Graffiti als Wandzeitung der Revolution
Am Tag nach dem Sturz des Diktators machen sich euphorische Aktivisten daran, Wände und Denkmäler in Kairo von den gesprühten Slogans wieder zu säubern. Graffiti sind zur Wandzeitung der Revolution geworden, die Rufe nach dem Fall des Regimes sind – so scheint es – alte Nachrichten.
Noch bevor den meisten Ägyptern klar wird, dass sie die Revolution keineswegs zu Ende gebracht haben, arbeiten viele Künstler weiter auf der Strasse. Die Polizei ist verschwunden, und die neugewonnene Freiheit wird genutzt, um die 18-Tage-Revolution mit Street Art zu feiern und ihrer zu gedenken. Bunte Revolutionsgemälde werden gemalt, Stencils und grosse Wandbilder zeigen Porträts der Märtyrer.
Bald wird der Kampf gegen die neuen Herren, dem Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF), das Ziel der politischen Graffiti. Als das Militär Mubarak opfert und sich telegen mit dem Volk verbrüdert, hat es hinterrücks schon seine Folterkammern mit Revolutionären gefüllt. Nun fordern Stencils die Freilassung von Aktivisten, das Ende von Militärgerichten für Zivilisten und bald auch das Ende der folternden Militärjunta.
Täter gesucht – per Wandzeichnung
Jede gesellschaftliche Diskussion – wie zum Beispiel die Rolle der Frau im neuen Ägypten – wird fortan mit Street Art ausgetragen, mit Werken, die oft auch auf den Titelseiten der Zeitungen landen. Nachdem sich die Gewalt des Militärs immer offener gegen die unbeugsamen Revolutionäre auf den Strassen richtet, wird nach Khaled Said nun auch der vom Militär getötete Aktivist Mina Daniel zu einem viel gesprühten Symbol der Revolution.
Ende 2011 eskaliert die Gewalt, als die Polizei Demonstranten mit Gummigeschossen in die Augen schiesst. Zuerst wird per «Fahndungs-Stencil» einer der Täter gesucht und identifiziert, dann Portraits der Opfer gemalt und schliesslich wird die Augenklappe ein weiteres Symbol, das überall auftaucht: Solidarisch auf den Augen von unverletzten Demonstranten, auf den marmornen Löwen an der Nilbrücke und auf zahllosen Graffiti.
Schon früh verwenden die Graffitikünstler Symbole des antiken Ägypten: So trägt Tutanchamun die Anonymous Maske und Nofretete wird mit Gasmaske zur Revolutionärin. Die Besinnung auf das Erbe von Jahrtausenden findet in Kairos Mohammed Mahmoud Street ihren Höhepunkt. Die Strasse führt vom Tahrir-Platz in Richtung Innenministerium und wird das Zentrum zahlloser tödlicher Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Nach dem Massaker an 79 Fussballfans in der Stadt Port Said im Februar 2012 verwandelt eine Gruppe von Künstlern die Strasse in eine Gedenkstätte – inmitten von Tränengasnebel, Steinhagel und umherfliegender Schrotkugeln. In wochenlanger Arbeit entstehen pharaonische Szenen gemischt mit Bildnissen aus dem koptischen Christentum, Sufismus und zeitgenössischer Street Art. Mütter und Freunde weinen und beten hier vor den Bildern der Toten.
Graffiti erobern den Präsidentenpalast
Mit dem Amtsantritt von Präsident Mursi, einem der führenden Mitglieder der Muslimbruderschaft, scheint die Revolution im Juni 2012 endgültig zu Ende zu sein. Viele Graffiti-Künstler sind jetzt öfter in Galerien oder bei internationalen Projekten anzutreffen als in den Strassen. Und das, bis im September jemand in der neuen Regierung auf die Idee kommt, die inzwischen berühmten Gemälde der Mohammed Mahmoud Street im Schutz der Polizei und bei Dunkelheit übermalen zu lassen. Nur Stunden später sind die Künstler dort wieder am Werk.
Im Dezember erobern Graffiti erstmals in der Geschichte Ägyptens den schwergeschützten Präsidentenpalast, als die Muslimbruderschaft ihre neue Verfassung beschliesst und mit allen Mitteln durchsetzt. Die Wände des Palastes werden zu einer bunten Wandzeitung. Was darauf zu lesen ist, erinnert an den Anfang der Revolution: «Nieder mit Mursi!»