Zwei Uhr morgens. Matador, 40 Jahre, wütet über die Bühne. Er springt in die Hocke und reckt die Faust über knapp 300 Köpfe. Seine spitz zulaufende Mütze ist nach hinten gerutscht. Schweissperlen laufen über seine Stirn. Aber er brüllt einfach weiter.
Babacar Niang alias Matador ist einer der bekanntesten Rapper Senegals. Er wird öfter zu politischen TV-Shows eingeladen als so mancher Minister.
Viele Rapper, keine Bühnen
Matador stammt aus den Banlieues von Dakar. Dort hat er heute schon ein Filmteam herumkommandiert, für den Dreh eines Musikvideos. Dann hat er sich den Staub und den Dreck vom Körper gewaschen, ein frisches T-Shirt übergezogen und ist hierhergefahren – in ein Jugendzentrum ausserhalb von Dakar. Das Zeltdach, unter dem er jetzt rappt, hat er eigenhändig mit aufgespannt, die Scheinwerfer ans Gerüst gehängt.
Im Senegal gibt es über 4000 Rapper – aber keine Bühnen. Statt nur «fuck the system» ins Publikum zu brüllen, schiesst Matador hinterher: «Wenn ihr uns nicht in Konzertsälen auftreten lasst, dann bauen wir sie uns eben selbst!»
Den Nachwuchs fördern
Matador ist nicht nur Künstler, sondern hat auch Unternehmergeist. Er will Nachwuchsrapper in den Vororten fördern und im Musikgeschäft professionellere Strukturen aufbauen. 2005 hat er in der Stadt Pikine, einem Ghetto etwa 30 Autominuten ausserhalb von Dakar, die Street-Art-Schule Africulturban gegründet.
Seitdem hat er dort über 500 Jugendlichen Break Dance, Filmproduktion, Musik-Auflegen und Tontechnik beigebracht. Ein paar Kilometer weiter – mitten in einer Ansammlung aus Wellblechhütten – hat er 2009 eine Hip-Hop-Akademie gegründet. Klein ist das Studio, bescheiden die Ausrüstung. Aber Matadors Musik steckt alle an.
Wo der Staat versagt, entstehen Start-ups
Matadors Eigeninitiative ist keine Ausnahme: Senegals Gründerinnen und Gründern fehlt es an allem – auch im neuen Boom-Bereich Technologie. Doch statt sich zu beklagen, entwickeln sie Lösungen, die sich auch mit wenig Geld realisieren lassen.
In ganz Afrika besitzt inzwischen fast jeder ein internetfähiges Handy. Und Programmiersprachen zu beherrschen, ist angesagt: In kostenlosen Kursen im Internet bringen sich die jungen Leute selbst Javascript und PHP bei und organisieren sich in Netzwerken, afrikaweit. Mithilfe von Open-Source-Software entwickeln sie dort gemeinsam komplexe Systeme, die für eine Vielzahl von Anwendungen genutzt werden.
In den letzten Jahren sind so in den Hauptstädten Afrikas eine Reihe von Apps, SMS-Services und Internet-Plattformen entstanden, mit denen die Gründer in Bereiche vordringen, in denen der Staat versagt.
«Eine Welt von Unternehmern»
Vor dem CTIC Hub im Zentrum von Dakar – die Abkürzung steht für « Centre de technologie et d'innovation d'Afrique de l'Ouest» – schlängeln sich Frauen in Kostüm und Männer im Anzug durch die chronisch verstopften Strassen. Das zweistöckige Gebäude liegt nur ein paar hundert Meter vom Präsidentenpalast entfernt, umgeben von französischen Boulangeries und Bistros.
«Sie betreten eine Welt von Unternehmern, die ihr Leben und das ihrer Mitarbeiter verändern und ihr Land weiterentwickeln», steht auf einem Schild über dem Eingang. Die Wände leuchten strahlend weiss.
Im zweiten Stock hat die 46-jährige Regina Mbodj ihr Büro. Im bodenlangen Kleid mit senegalesischem Print sitzt sie hinter einem schweren Schreibtisch aus Holz. Im Regal reihen sich Pokale.
Die Senegalesin, eine Grande Dame der Tech-Szene Afrikas, hat in Südafrika Informatik studiert und als eine der ersten Software-Entwicklerinnen den Kontinent bereist. Sie hat in den USA und Europa Karriere gemacht, als die Blogger und Programmierer im Senegal gerade erst anfingen, sich in Vereinen zu organisieren.
Ideen entwickeln fast ohne Geld
2008 erkannte die Weltbank das Potenzial der jungen Tech-Szene. Und überzeugte Mbodj, in ihre Heimat zurückzukehren und den CTIC Hub aufzubauen: einen Co-Working-Space, in dem Mentoren die Gründer dabei unterstützen, ihre Produkte zur Marktreife zu entwickeln.
Insgesamt 111 Start-ups hat Mbodj hier seit 2011 je drei Jahre lang begleitet. Die Zahl der Bewerber ist zehnmal so hoch – auch wenn das CTIC keine Anschubfinanzierung bietet, wie man das aus Europa und anderen afrikanischen Ländern kennt. Die Gründer müssen selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen.
Auch Ideenwettbewerbe sind mangels Geld längst ausgesetzt. Doch Mbodj lässt sich davon nicht entmutigen: «Es ist ohnehin nicht gut für die Start-up-Wirtschaft, von Wettbewerben zu leben», sagt sie. «Wir schicken unsere Leute los, um die wahren Probleme des Landes zu erkennen – und mithilfe von Technik zu lösen.»
Per SMS den Bauern helfen
Unterstützt von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ verbrachte eine Gruppe von Entwicklern eine Woche bei Bauern auf dem Land.
«Dabei erfuhren sie, dass die Bauern oft 10 Tonnen Reis oder Zwiebeln produzieren, aber nur drei Tonnen verkauft bekommen», erklärt Mbodj. «Sie entwickelten den kostenlosen SMS-Service Mlouma, über den Bauern Abnehmer in Dakar erreichen, um ihre Ware zu bewerben.»
Doch für eine breit angelegte Studie über die Wirkung dieser Innovation, fehle wieder mal das Geld.
Der Ferrari unter den Technologiezentren
Immerhin 560 Millionen US-Dollar an Investitionen zogen Start-ups in ganz Afrika 2017 an, mehr als doppelt so viel wie im Jahr zuvor. 90 Prozent davon fliessen in anglophone Länder. Denn die meisten Investoren kommen aus den USA und China, sprechen kein Französisch und tun sich schwer in Ländern wie dem Senegal.
Das liegt auch an den gesetzlichen Rahmenbedingungen vieler frankophoner Länder. Im anglophonen Nigeria wurden innerhalb kürzester Zeit Clubs von «Business Angels» geschaffen – von Unternehmern, die Gründer mit Geld, Know-how und Kontakten unterstützen.
Kenias IT-Minister hat zuvor das iHub mitgegründet, eines der ersten Technologiezentren Afrikas. Im Vergleich zu den schicken Büros mit Dachterrasse und Fitnessraum im Zentrum von Nairobi wirkt das CTIC Hub in Dakar wie ein VW-Bus gegen einen Ferrari.
Ein Flair wie in Berlin Mitte
An diesem Nachmittag sind 25 Gründerinnen und Gründer aus ganz Ostafrika, überwiegend Frauen, ins iHub in Nairobi gekommen, um mehr über Start-up-Management zu lernen.
Der Konferenzraum ist nagelneu, es riecht nach frischer Farbe. An der Wand hängen leuchtend grüne und graue Plakate, in den gleichen Farben der Designer-Stühle. «Recruit for attitude, train for skill», steht auf einem.
Würde man nicht hin und wieder Matatu-Busse hupen hören, die draussen die Strassen der Hauptstadt Kenias verstopfen, könnte man meinen, man sei in Berlin Mitte oder London.
Die Gründerszene floriert
Eine der Teilnehmerinnen ist Adelaide Odhiambo, 35 Jahre, eine aufgeweckte Frau in Perlonstrumpfhose und Tweedrock. Sie hat gerade eben die Mikro-Versicherungsfirma blue wave lanciert.
Zehn Jahre lang hat sie in einem Versicherungskonzern Karriere gemacht, dann kündigte sie ihren Top-Job. «Die Gründerszene in Kenia ist so vielfältig und aufregend», sagt sie. «Wer eine Idee realisieren will, sei es auch nur ein Traum, kann sich sicher sein, dass er von irgendwo her das dafür nötige Geld bekommt.»
Kenias Start-ups haben allein 2017 fast 150 Millionen US-Dollar angezogen – mehr schaffte nur Südafrika. Das Land ist auch deshalb so beliebt bei Investoren, weil viele Ausländer dort Unternehmen gründen und ein Netzwerk an Geldgebern mitbringen.
Daran, dass sie irgendwann einmal weiterziehen in Länder mit noch günstigeren Konditionen, denkt in Nairobi im Moment niemand.
Absichern statt auf den Jackpot pokern
Odhiambos Mikroversicherung richtet sich an die ärmsten Schichten der Gesellschaft: Wer in Kenia einen Unfall baut, ist meist auf seine Gemeinde angewiesen. In der Regel versuchen die Vorsteher, das nötige Geld für eine Operation, für Medikamente oder für eine Beerdigung aufzutreiben. Genau das soll nun auch «blue wave» leisten.
Das Einsteiger-Paket ist schon ab 2 Rappen pro Monat zu haben – günstiger als die Konkurrenz: «Viele arme Menschen versuchen, sich über Sportwetten abzusichern, weil sie sich keine Krankenversicherung leisten können», erklärt Odhiambo. «Aber statt einen Jackpot zu gewinnen, verlieren viele ihr gesamtes Geld.» Diese Menschen will sie nun erreichen.
Junge Unternehmen springen in die Bresche
Egal ob in Kenia, Uganda oder im Senegal – mit ihren Apps und Plattformen suchen die Gründer Lücken in bestehenden Serviceleistungen und arbeiten daran, sie von privater Seite aus zu schliessen oder zu verbessern. Denn Fälle, in denen der Staat versagt, gibt es zuhauf: im Gesundheitswesen, im Finanzbereich, in der Landwirtschaft und in der Bildung.
Die Gründer erkennen darin einen Markt mit riesigem Potenzial. Aber ihre Unternehmen können auch dazu führen, dass staatliche Kernaufgaben schleichend privatisiert werden – und der Staat seiner Verantwortung nicht mehr nachkommt.
«Der Staat – das sind auch wir»
Der Rapper Matador hat den Glauben an das Verantwortungsbewusstsein seines Staates längst verloren. Das Musikvideo , das er am Nachmittag vor seinem Auftritt aufnimmt, handelt von Kindsentführungen hier in Pikine, deren Hintermänner die Polizei immer noch nicht kennt.
Es ist 18 Uhr, der frühe Abend vor dem Auftritt. Matador lädt die Videoclips auf den Rechner des Studio «Timbuktu»: zehn Quadratmeter, drei ausrangierte Bürostühle und ein Schreibtisch, von dem aus man durch eine Glasscheibe in die Aufnahmekabine blickt.
Das Mischpult ist verstaubt, ein Mikro provisorisch mit Klebeband fixiert, aber die Boxen wummern, dass die Fensterscheiben klirren. Matador schliesst für einen Moment die Augen und wiegt seinen Kopf im Takt.
Seit 30 Jahren rappt er gegen das Nichtstun der Politik. «Viele Leute sterben lieber im Meer als hierzubleiben, weil sie sich von den Politikern im Senegal verraten fühlen», sagt er. «Aber der Staat, das sind auch wir, und deshalb tragen auch wir Verantwortung.»
Vor Ort statt aus der Ferne handeln
1998 nahm Matador mit seinen Kumpels das erste Album auf. Die Rapper tourten gemeinsam durch Europa – Brüssel, München, Berlin – und blieben einfach dort. Bis auf Matador.
Seit seiner Rückkehr hat er eine Mission. «Der Hip-Hop ernährt niemanden im Senegal, die meisten Rapper sehen sich gezwungen zu gehen», sagt er. «Aber Rap ist dazu da, Negatives in Positives umzuwandeln und eine Gesellschaft weiterzuentwickeln. Hier gibt es allerhand zu tun. Was sollen wir also in Europa?»
Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Vorbild für die jungen Leute zu sein und Studios zu gründen, die sie auffangen, in denen sie sich ausdrücken und professionalisieren können – damit sie irgendwann vom Rap leben können.
Bereit für eine lange Nacht
Die Lichttechniker, die gerade die Bühne für die Hip-Hop-Nacht aufbauen, wurden in seiner Street-Art-Schule Africulturban geschult. Auch die beiden Fotografen, die das Musikvideo an diesem Nachmittag aufgezeichnet haben, haben auf seiner Akademie gelernt.
«Wir wollen verhindern, dass diese Leute nach Europa fliehen», sagt Matador. «Aber wir haben keine Zeit, auf Massnahmen des Staates zu warten, also lösen wir unsere Probleme eben selbst.»
Plötzlich klingelt sein Handy. Ein Bekannter ist dran, der ihn nach Hause bringen will. Schliesslich muss er noch duschen und essen. Denn die Rap-Nacht wird erst bei Sonnenaufgang zu Ende sein.