Unsere Gesellschaft begegnet Kindern und Jugendlichen ambivalent: Einerseits schotten wir sie von Risiken und Gefahren ab, andererseits fordern wir ihnen Disziplin ab. Alle müssen möglichst ins Gynmasium. Nach der Schule sollen die Kinder jeweils noch in die Geigenstunde oder ins Ballett.
Mit dem Wilden von Kindern und Jugendlichen könne die alternde Gesellschaft nicht umgehen, sagt Psychologe Allan Guggenbühl: «Ein Problem ist, dass wir in einer Gerontokratie leben – also einer Herrschaft der Alten.» Deren Werte setzten sich gesamtgesellschaftlich durch: Sicherheit, Gesundheit, Kontrollierbarkeit.
Wenn die Alten sich für Neues zuständig sehen
Da könnte man sich fragen: Was ist denn so schlimm daran, wenn das zum Standard wird? Dass das Leben planbarer und sicherer geworden ist, kann doch kein so grosses Problem sein.
Guggenbühl sieht das aber als Gefahr: Eine auf Sicherheit bedachte, alternde Gesellschaft werde träge und selbstgerecht, sagt er. «Das Innovative, Spielerische und das Ausloten von Möglichkeiten geht verloren.»
Die Alten würden in unserer Gesellschaft glauben, sie seien auch für Erneuerung zuständig. Er hingegen glaube: «Das ist einfach nicht der Fall.»
Wie sich die Gesellschaft um Ideen bringt
Das Neue entstehe eben nicht durch die Generation 50 Plus, die heute bereits über 40 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Neue Ideen kämen von unten, von den Jungen. Sie entstünden in der Zeit des Sturm und Drangs.
Guggenbühl sagt: «Es gibt gewisse Phasen im Leben, in denen man mit sich selber und der Aussenwelt experimentiert.» Das geschehe etwa in der Pubertät und der Adoleszenz. «Man hat da komische, verrückte Ideen. Die sind oft der Anfang einer neuen Entwicklung.» Wenn unsere Gesellschaft die Jugend zu sehr diszipliniere, bringe sie sich um dieses Neue.
Guggenbühl fordert deshalb mehr Freiräume, in denen sich Kinder und Jugendliche unbeobachtet und von Erwachsenen unreglementiert bewegen können. «Wohltuende Vernachlässigung» nennt er das: Jede und jeder soll das Recht haben, mal tüchtig auf die Nase zu fallen.
Kinder sollen Geld verdienen
Gleichzeitig plädiert Guggenbühl dafür, Kinder stärker in die Pflicht zu nehmen: Ab dem Alter von 12 oder 13 sollen diese jobben, findet er.
Wer arbeitet, gehöre schliesslich dazu. «In der Gesellschaft sollte jeder seinen Beitrag leisten können. Das ist letztendlich eine soziale Einstellung. Unser Leben funktioniert nur dann.»
Eine Generation von hypersensiblen Egoisten
Aber was meint Guggenbühl mit seinem Plädoyer für mehr Laissez-faire auf der einen Seite und mehr Härte auf der anderen? Sollen wir zurück zur «guten alten Zeit», als Kinder nicht verzärtelt wurden, sondern in Fabriken arbeiten mussten?
Nein, natürlich geht es dem Psychologen nicht darum. Aber Guggenbühl macht – vielleicht nicht ganz zu Unrecht – eine ungute gesellschaftliche Tendenz aus: eine Herrschaft der Alten, die eine Generation von hypersensiblen Egoisten heranzieht.