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Alltag im Strafvollzug «Vergiss nicht, du bist freiwillig hier!»

Der Journalist Thomas Gerber lebt eine Woche lang in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies. Tagebuch eines vorübergehend Inhaftierten.

Lesedauer: 7 Minuten

«Frage nie einen Gefangenen nach seinem Delikt», warnt mich Blerim* nach wenigen Minuten. Seit gut einer Stunde bin ich in der JVA Pöschwies – quasi als «embedded journalist» – und sortiere mit Blerim zusammen Schrauben.

Die nächsten acht Tage lebe ich (fast) wie ein Häftling im grössten Gefängnis der Schweiz und darf als Videojournalist den Knastalltag im Normalvollzug dokumentieren. Ein Experiment für mich, aber auch für die Vollzugsanstalt.

Thomas Gerber

Produzent

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Thomas Gerber ist Reporter, Redaktor, VJ und Produzent bei SRF. Er hat für das Sportmagazin «time out», die Rundschau und für «Quer» gearbeitet. Seit 2007 arbeitet er für das Wissensmagazin Einstein .

Freiwillig ins Gefängnis

Die letzten Nächte vor meiner Einweisung habe ich schlecht geschlafen. Aus einer faszinierenden Idee wurde Realität. Nun sitze ich unter 20 Häftlingen an einer Werkbank in der Montagehalle 2.

Kalender und Ansichtskarten schmücken die Wände, Tageslicht erleichtert die vielfältigen Montagearbeiten. Die Arbeitsplätze sind sauber und aufgeräumt.

Betonfassade eines Gebäudes, ein Mann steht vor einer Tür mit grossen Schild "EinganG".
Legende: Einsitzen auf Zeit: Unser Autor besucht für acht Tage die JVA Pöschwies in Regensdorf bei Zürich. Milad Ahmadvand

Während wir jeweils exakt 100 Schrauben in eine Schachtel abfüllen, erklärt mir Blerim das Leben in der Pöschwies – oder zumindest seine Version davon. Ich merke bald, vieles von seinen Erzählungen ist «Häftlingslatein».

Dann geht’s in die Rauchpause. Blerim meint noch, dass er nicht mit mir gesehen werden möchte in der Pause. Er wird nicht der Einzige sein in dieser Woche, der zwar mit mir spricht, aber nicht in der Gegenwart von anderen Gefangenen.

Der Arbeitstag in der Pöschwies

Die tägliche Arbeitszeit beträgt 6 Stunden und 20 Minuten, der Durchschnittsverdienst liegt bei 25 Franken pro Tag. Maximal 33 Franken kann ein leistungsbereiter, gut ausgebildeter Gefangener pro Tag verdienen.

Nach dem Nachtessen um 17 Uhr ziehe ich mich in meine Zelle zurück. Kurz vor dem Einschluss um 10 vor 8 trete ich nochmals vor die Zellentür. Ein Grossteil der 24 Insassen spaziert laut debattierend auf dem 12 Meter langen Korridor im zweiten Stock unentwegt hin und her. Ein bizarres Schauspiel.

Computer, aber offline

Nach zwei Tagen lädt mich zum ersten Mal ein Gefangener in seine Zelle ein. Pedro lebt seit mehr als sechs Jahren in der Pöschwies. Für einen versuchten Mord wurde der gelernte Altenpfleger zu 12 Jahren verurteilt.

Neben dem Fernseher entdecke ich in seiner Zelle einen Computer und eine Playstation. Diese Geräte können die Insassen mieten. Die Kosten werden vom Arbeitsentgelt abgezogen.

Der Computer verfügt nur über ein Textverarbeitungssystem, ein paar Spiele und eine Offline-Version von Wikipedia. Internet gibt’s nur in Begleitung, einmal pro Woche.

«Da ist noch Luft nach oben»

«Ich habe eine grosse Zelle, muss mit niemanden um die Fernbedienung streiten», erzählt Pedro. «Verglichen mit andern Ländern ist das okay. Die Infrastruktur ist überdurchschnittlich. Aber wenn ich Beispiele in skandinavischen Ländern sehe, dann ist noch Luft nach oben.»

Blick durch eine Öffnung im Boden auf ein tieferliegendes Stockwerk. Dort gehen zwei Personen nebeneinander.
Legende: Auf und ab auf dem immer gleichen Flur: Das Leben im Gefängnis ist geprägt von sich wiederholenden Abläufen. Milad Ahmadvand

Der Fernseher ist für die Gefangenen wie ein Fenster nach draussen. Sie schauen stundenlang und viele sind bestens informiert.

Pedro hat sich die 11,2 Quadratmeter grosse Zelle sehr persönlich eingerichtet. Fotos, Kinderzeichnungen, Weltkarten mit Stecknadeln und Ansichtskarten erzählen von seinem Vorleben.

Zwischen Verantwortung und Bevormundung

Pedro wird in dieser Woche zu meiner engsten Kontaktperson. Sein Redefluss ist kaum zu bremsen, seine Beschreibungen des Alltages sind präzise und reflektiert.

«Das Allerschlimmste für mich in der Pöschwies ist die Bevormundung. Man kommt ins Gefängnis und sollte eigentlich lernen, die Konsequenzen und die Verantwortung zu tragen für das, was man gemacht hat. Hier im Gefängnis erlebe ich aber genau das Gegenteil. Das System nimmt mir jegliche Verantwortung. Ich lerne nicht, selbstständig zu planen und handeln.»

Trott und Resignation

Seine Aussagen decken sich mit meinen Eindrücken. Ich werde den Verdacht nicht los, dass viele der Männer hier verlernen, eigenständig zu leben.

Sie werden geweckt, die Wäsche wird wöchentlich gemacht, dreimal täglich steht eine warme Mahlzeit auf dem Tisch. Wer keine Strategie gegen diesen Trott entwickelt, resigniert und lässt sich gehen. Innerlich wie äusserlich.

Leben mit der Schuld

Mit einzelnen Gefangenen werden die Gespräche von Mal zu Mal tiefer, persönlicher. Einige erzählen mir von ihrem Vorleben, ihren Taten. Sie beschreiben ihre Gewissensbisse, die ewigen Fragen nach dem Warum. Keiner dieser Männer jammert, alle sind sich ihrer grossen Schuld bewusst.

Manchmal kann ich fast nicht mehr zuhören. Ich möchte einfach nicht, dass das wahr ist, was sie mir erzählen. Es bedrückt, es erdrückt mich richtiggehend.

Blick von aussen in ein Zimmer, in dem zwei Männer sitzen und Kaffe trinken.
Legende: Immer wieder wird unser Autor zum Kaffee in eine Zelle eingeladen. Viele Insassen haben Kaffeemaschinen, den Kaffee dafür können sie im Gefängniskiosk kaufen. Milad Ahmadvand

«Die Therapeuten haben keine Ahnung»

Wie fühlt es sich an, wenn man einen Menschen getötet hat? Wie verarbeiten die Gefangenen ihre Taten? Viele zeigen sich nicht besonders begeistert vom therapeutischen Angebot.

Der «PPD» (psychiatrisch-psychologische Dienst) hat die Rolle des Feindbildes von der Justiz übernommen. «Diese Therapeuten haben keine Ahnung, sprechen eine ganz andere Sprache und vor allem wollen sie uns immer was in den Mund legen», beteuert Blerim und er erhält weitherum Zustimmung.

Auffallend unerwähnt bleibt aber der Umstand, dass solche Therapien für die Insassen ziemlich hart sein können. Es tut weh, sich dem eigenen Fehlverhalten zu stellen. Doch für eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft ist eine solche Konfrontation mit der Tat und die daraus folgende Verhaltensänderung unabdingbar.

Aber es gibt auch wenige andere Insassen. Zum Beispiel Pedro. «Viele werden das hier drin nicht gerne hören, aber was mir in Bezug auf mein Delikt geholfen hat, das war die Therapie.»

Er bekam vom Richter keine Massnahme auferlegt, dennoch besuchte er freiwillig die Fallbesprechungen. «Ich wollte verstehen, wieso ich so etwas Schreckliches getan habe und was das mit meinem Charakter, mit meiner Persönlichkeit zu tun hat.» Aber auch Pedro weiss: Ohne eine solche Therapie sinkt die Chance auf eine vorzeitige Entlassung nach zwei Dritteln der Strafe.

Illegale Handys

Ein wichtiges Thema in den Gesprächen mit den Gefangenen sind Mobiltelefone. Insassen wie Angestellten ist klar, dass in der Pöschwies Geräte gehandelt und versteckt werden. Die Schätzungen gehen weit auseinander: Die einen sprechen von mehreren hundert Telefonen, andere von einigen Dutzend.

Ich frage mich, wie und wo die Geräte vor den Blicken der Angestellten geschützt werden – die Zellen werden regelmässig gefilzt. Ich staune über die teilweise raffinierten Verstecke, welche mir einige Insassen beschreiben.

Sex mit Gummihandschuhen

Irgendwann landet jedes Gespräch beim Thema Frauen, beim Thema Sex. Es ist offenkundig, dass die meisten Insassen unter dem Entzug von körperlicher Liebe leiden.

«Masturbation ist Alltag in der Zelle», beschreibt Pedro die Situation. Da Porno-DVDs offiziell verboten sind, bleiben nur noch Zeitschriften und die Vorstellungskraft. Homosexuelle Gefangene hätten ihm aber schon von verbotenen sexuellen Aktionen erzählt.

Heute sei das schwieriger, da auf den Stockwerken Kameras installiert wurden. So wissen die Angestellten immer, wer bei wem in der Zelle ist. Von sexuellen Übergriffen habe er noch nie gehört. Die Seife in der Dusche gehöre ins Reich der Legenden.

In der Montagehalle nimmt mich ein Gefangener zur Seite und zeigt mir, wie man sich mit einem Gummihandschuh eine künstliche Vagina bastelt. Auch er meint, Sex finde vor allem in der Einsamkeit statt.

In der Pause werde ich immer wieder bedrängt. Man möchte, dass ich gewisse Botschaften nach draussen bringe. Andere fordern mich auf, dass ich etwas gegen die Missstände in der Pöschwies unternehme. Von Folter ist da gar die Rede.

Ganz konkrete Beispiele aber kriege ich keine zu hören. Und die häufig zitierte Isolation in der Arrestzelle ist zwar sehr unangenehm, aber gesetzeskonform.

Zu wenig Zeit am Telefon

Viele beklagen sich über die zu kurzen Telefonzeiten (160 Minuten in einem Monat) und die wenigen Besuchsmöglichkeiten. Zudem beklagen sich Ausländer, dass sie nicht wie die Schweizer nach draussen auf Urlaub dürfen. Mit diesen Kontakteinschränkungen sei eine erfolgreiche Resozialisierung gar nicht möglich, bekomme ich täglich zu hören.

Die eingeschränkte Telefonzeit ist auch der Anstaltsleitung bewusst. Im Moment schränkt noch die Anzahl der Benutzer eines Telefons (24) die Gesprächsdauer ein. Mit der geplanten, neuen Telefonanlage ab 2020 sollte auch in diesem Bereich eine Besserung eintreten.

Einige wenige haben bis zum Schluss das Gefühl, dass ich ein Spitzel sei und beobachten mich argwöhnisch. Die grosse Mehrheit aber begegnet mir nach den ersten Tagen sehr freundlich und ich habe manchmal das Gefühl, dass ich in einem Klassenlager oder Zivilschutzkurs stecke.

«Du bist keiner von uns»

Schon nach wenigen Tagen gerate ich in einen ähnlichen Trott wie die Insassen. Ich merke, wie sich mein Schritt verlangsamt. In der Gärtnerei aber holt mich ein Insasse zurück aus dieser Lethargie. «Vergiss nicht: Du bist freiwillig hier. Wir nicht! Du bist keiner von uns.»

Blick durch ein vergittertes Fenster. Zu sehen ist ein Fussballplatz, dahinter eine Mauer und ein Wald. Die Sonne scheint.
Legende: Die Morgensonne strahlt direkt in die Gefängniszelle, die Vögel zwitschern. Wenn da nur nicht die Gitter wären... Milad Ahmadvand

Meine Woche in der Pöschwies war eine sehr intensive Zeit, die mich emotional an Grenzen brachte. Noch Wochen später träumte ich vom Gefängnis. Für mich war dieser Aufenthalt ein Abenteuer, keine Bestrafung. Deshalb kann ich auch danach nur erahnen, was Freiheitsentzug wirklich bedeutet.

Ich habe viel über mich erfahren. So wurde mir im Laufe der Woche wieder einmal bewusst, welches Glück mir beschieden war. Ich konnte behütet in der Schweiz aufwachsen. Meine Eltern förderten und forderten mich. Mir standen ganz viele Türen offen, ich musste nur hineintreten. Nicht jedem, der in der Pöschwies einsitzt, war gleiches Glück beschieden.

*alle Namen sind aus Persönlichkeitsschutz geändert

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