SRF: Wo steht die Organisation heute?
Alexandra Karle: Heute sind für Amnesty International sieben Millionen Menschen in 150 Ländern aktiv. Damit kann man Einfluss nehmen und positive Veränderungen erzielen. Gemeinsam mit Menschenrechtsaktivistinnen in aller Welt und auch in Verbindung mit anderen Organisationen wollen wir uns heute wie gestern für eine Welt einsetzen, in der die Menschenrechte für alle gelten.
In den 1960er- und 70er-Jahren wurde man angesprochen, man solle Postkarten und Briefe schreiben, um sich für einen Häftling einzusetzen. Wie hat sich das im digitalen Zeitalter verändert?
Es gibt keine Kampagne, die heutzutage nicht gleichzeitig online wie offline geführt wird. Wir brauchen auch heute noch Aktionen abseits des Netzes. Auf der Strasse brauchen wir Aktivistinnen und Aktivisten, die mit Aktionen auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen, Unterschriften für Petitionen sammeln. Wir setzen Plakate und Flyer ein.
Natürlich sind wir auch stark in der Video-Produktion, auf den Sozialen Medien, egal ob auf Twitter, Facebook oder Instagram. Auch in unseren Online-Aktionen versuchen wir, keine «Opfer» zur Schau zu stellen. Wir zeigen möglichst keine Kinderbilder, sondern präsentieren unsere Kampagnen, Ergebnisse von Recherchen oder Aktionen von Amnesty-Mitgliedern.
Es gibt keine Kampagne, die heutzutage nicht gleichzeitig online wie offline geführt wird.
Den traditionellen Briefmarathon rund um den 10. Dezember gibt es auch immer noch: Inzwischen kann man sich zwar per digitalem Klick anmelden, muss aber noch immer ein PDF ausdrucken, es analog unterschreiben und physisch in die Post werfen.
Wie gehen Sie im Zeitalter der «fake news» mit Informationen um, die Ihnen zugespielt werden?
Wir prüfen alle Informationen nach. Das macht uns mitunter langsam im schnellen aktuellen Mediengeschäft.
Vor einigen Monaten hiess es beispielsweise, der syrische Präsident Assad habe Giftgas gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt. Wir checken solche Meldungen mit unseren Leuten vor Ort gegen, sprechen mit Opfern, Ärzten, Augenzeugen und verifizieren die Informationen.
Wir haben über 25-Videos durch Chemiewaffen-Experten auswerten lassen. Einige waren von genügend guter Qualität und die Symptome der Opfer liessen auf einen Angriff mit Nervengas wie Sarin schliessen. Auch Interviews mit ärztlichem Personal vor Ort stützten diesen schweren Verdacht . Eine Uno-Untersuchung hat ihn später bestätigt.
Wir prüfen alle Informationen nach, die uns zugespielt werden. Das macht uns mitunter langsam im schnellen aktuellen Mediengeschäft.
Unsere Recherche-Arbeit heute unterscheidet sich stark von den Möglichkeiten, die wir zur Anfangszeit von Amnesty hatten. Heute gehören auch IT-Spezialisten zu den Rechercheteams . Sie können Bombenangriffe auf Satellitenbildern näher untersuchen, überprüfen Tausende von Einzelbilder aus verschiedenen Perspektiven und klären offene Fragen: Welche Art Bombe war es? Woher kam sie? Wer ist getötet worden? Wie viele Zivilisten, Kinder, Soldaten? Wer ist verantwortlich?
Oder jetzt in Myanmar: Natürlich sehen wir verbrannte Dörfer auf den Satellitenaufnahmen. Aber das könnte viele Gründe haben. Wir müssen alles erst nachprüfen, bevor wir öffentlich Stellung beziehen.
Sie schicken Menschen in ein solches Gebiet, um es in Augenschein zu nehmen?
Ja, unsere speziell ausgebildeten Recherche-Teams. Manchmal helfen uns aber auch Aktivistinnen vor Ort mit zusätzlichen Informationen. Zum Beispiel bekamen wir ein wackliges Handy-Video aus Burundi zugespielt von angeblichen Massengräbern.
Wir verglichen die Aufnahmen mit Satellitenbildern von Google Earth, sprachen mit Augenzeugen, analysierten und setzen die Informationsbausteine wie ein Puzzle zusammen. Die Auswertungen und Recherchen vor Ort zeigten uns, dass die Videoaufnahmen der Massengräber echt waren .
Neue Technologien und der verfügbare Datenfluss sind heute extrem wichtig für die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen.
Neue Technologien und der verfügbare Datenfluss sind heute extrem wichtig für die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, besonders wenn sie mit etablierten Recherchemethoden kombiniert werden. Wichtig für uns ist: Wenn wir an die Öffentlichkeit gehen, müssen die Fakten stimmen. Damit steht und fällt unsere Glaubwürdigkeit.
Aber es gibt Orte, da können Sie niemanden hinschicken.
Die gibt es. Das syrische Militärgefängnis Saydnaya ist solch ein Ort. Ein Foltergefängnis Assads. An diesem Bericht haben wir lange gearbeitet. Wir haben mit ehemaligen Häftlingen gesprochen, den wenigen Überlebenden, mit ehemaligen Wärtern, Ärzten, Richtern und geflohenen Militärs.
Wir haben all diese Informationen verarbeitet, um den Ort des Horrors zu veranschaulichen.
Wir brauchen mehrfach übereinstimmende Antworten auf die Fragen: Um welche Art von Folter handelte es sich, in welchem Rhythmus fanden die Misshandlungen statt, wo passierte es, welche sonstigen Massnahmen wurden eingesetzt? Wir haben all diese Informationen verarbeitet und das Saydnaya-Gefängnis digital nachgebaut , um den Ort des Horrors zu veranschaulichen.
Gibt es Länder, in denen Ihre Arbeit unmöglich oder fast unmöglich ist?
Ja, sicher. Zum Beispiel Nordkorea, China, Eritrea. Nach Eritrea dürfen wir nicht einreisen. Die googeln unsere Namen schon beim Antrag auf ein Visum. In China arbeiten wir mit lokalen Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, denn Amnesty ist in China verboten. Das ist sehr gefährlich für die Menschen vor Ort. Für Nordkorea haben wir einen Researcher, der mit Menschen spricht, die von dort geflohen sind.
Wir brauchen am Schluss harte Beweise, die notfalls auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof Bestand haben.
Unsere Leute sind sehr gut ausgebildet, sie sprechen oft nicht nur viele Landessprachen, sondern auch Dialekte. So können sie auch beurteilen, ob ein Zeuge wirklich aus einer bestimmten Region kommt und sie können direkt mit den Zeugen reden – ohne Übersetzerin. Wir brauchen am Schluss harte Beweise, die notfalls auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof Bestand haben. Wenn unsere Arbeit gut war, bedeutet für die Peiniger das Ende der Straflosigkeit und für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen eine Verbesserung ihrer konkreten Situation.
Das Gespräch führte Franz Kasperski.