Ecken der Welt, von denen die meisten kaum wissen, dass es sie überhaupt gibt: Christoph Ransmayr hat sie gesehen und festgehalten. Der österreichische Autor schreibt seit Jahrzehnten über über das Hochgebirge und das arktische Packeis, über die Osterinsel oder die Weite des Kosmos. Was findet er in der Fremde? Rendezvous mit einem Rastlosen, der als Kind an Heimweh litt.
SRF: Während der Pandemie hat ein Wort von Blaise Pascal weite Verbreitung gefunden: Das grösste Unglück des Menschen komme daher, dass er nicht still in einem Raum sein könne. Sie sehen das anders: Kommt das Unglück eher von zu viel Stubenhockerei?
Christoph Ransmayr: Ich glaube ja. Die schauerlichen Vorurteile, die in muffigen Stuben zusammengebraten werden, halte ich für gefährlich. Ich war immer davon überzeugt, dass jenseits der Grenzen zwar irgendetwas liegt, das mich ängstigt und mir Schmerzen bereitet. Aber ich bewege mich damit auf etwas hin, wo es viel zu gewinnen gibt. Nämlich das Interesse und die Zuneigung am Leben eines anderen Menschen.
Darüber kann man auch lesen. Allerdings muss immer jemand dort gewesen sein, der das erlebt und für andere erfahrbar gemacht hat.
Worum geht es Ihnen beim Reisen?
Um den Weg zu den Menschen. Ob sie mir nun in meiner eigenen Stadt gegenübersitzen und mir, wie Geflüchtete, erzählen, aus welchem Elend oder aus welchem Glück sie kommen. Oder ob ich sie treffe, weil ich für ein Kapitel an der Ostküste Sri Lankas recherchieren will und dafür mit einer Kriegspartei zu tun habe, ist egal. Es geht da wie dort um den Weg zu den Menschen.
Der Weg zu den Menschen ist aber oft auch von Vorurteilen gesäumt.
Oft gibt es durchaus eine Angst davor, was mir auf Reisen geschehen könnte. Etwa bei den Khampas in Ost-Tibet, die als kriegerisch und robust gelten. Dann sitzt man aber mit diesen Leuten da und nichts von all dem Befürchteten tritt ein. Die Vorurteile werden sozusagen im Nomadenlager am Feuer verbrannt.
In Ihrem Buch «Der fliegende Berg» schreiben Sie von einer Suche nach dem «unverrückbaren Ort unter einem unverrückbaren Himmel». Das klingt nach dem verlorenen Paradies. Ist das etwas, das Sie unterwegs suchen?
Viele unserer Sehnsüchte gelten einem Ort oder Zustand, an dem man sich vollkommen geborgen und frei von jeder Bedrohung fühlt. Es gibt dieses wunderbare Wort von Ernst Bloch, mit dem er «Das Prinzip Hoffnung» beschliesst: «Heimat ist etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.»
Ausgerechnet dort, wo ich Bedrohung und Einsamkeit annahm, entstand unglaubliches Glück.
Das, was man für das Allervertrauteste hält, wird nach und nach zur Utopie, zum Unerreichbaren und damit fast zu einer Paradiesvorstellung.
Wie kamen Sie zu Ihrer Reisesehnsucht?
Das war wohl eine Folge der Bekämpfung meines überwältigenden Heimwehs. Ich hatte so starkes Heimweh, dass mir, wenn ich nur schon das Kreuz des Kirchturms meines Voralpendorfes in Oberösterreich aus den Augen verlor, die Tränen kamen.
Egal, wo man ist: Jemand ist da, der einen auffängt.
Irgendwann erfuhr ich, dass ausgerechnet dort, wo ich ursprünglich Bedrohung, Hilflosigkeit und Einsamkeit annahm, unglaubliches Glück entstehen kann. Das Glück herauszufinden, dass, egal wo man ist, es immer irgendwo einen Punkt gibt, auf den man sich im Vertrauen fallen lassen kann. Jemand ist da, der einen auffängt.
Sie haben mal gesagt, auf Ihrem Grabstein solle «Auf und davon» stehen. Das klingt nicht nach letzter Ruhe?
Die gibt es auch nicht. Wir als Materie sind ja im einen oder anderen winzigsten Baustein möglicherweise aus Tutanchamun oder einem noch älteren Herrscher, oder aus einem Teppichweber oder Flötenspieler.
Was mit uns geschieht, wenn wir uns in der jetzigen Form auflösen, ist der Beginn eines Prozesses, der zu einer anderen Kombination führt. Das ist vielleicht kein grosser Trost, aber besser als gar nichts.
Das Gespräch führte Olivia Röllin.