Schulbeginn im Lycée Mousseron von Denain. Vincent Jarousseau steht vor einer 10. Klasse, projiziert das Titelblatt seines Fotoromans auf die Leinwand. Drei junge Männer und eine junge Frau sind zu sehen. Sie gucken in die Ferne. Es ist Sommer. Blauer Himmel, Ferienstimmung. Trotzdem sehen die Vier skeptisch aus.
Arm und schmuddelig
«Mein Fotobuch spielt in eurer Stadt. Wie denkt ihr über Denain?», fragt Jarousseau. «Hier ist es unsicher», sagt Dylan. Er sehe Betrunkene und Schlägereien. Viele Läden stünden leer.
Auch für die 15-jährige Jade steht fest: «In Denain gibt es viele Sozialfälle, die Stadt ist schmutzig. Sie ist echt kein guter Ort.»
Genau solche Urteile hätten ihn neugierig gemacht, sagt Jarousseau. «Vor 50 Jahren war Denain wohlhabend. Hier wurde Kohle und Stahl produziert, dadurch hat es zum Reichtum von Frankreich beigetragen.» Heute aber sei es eine der ärmsten Städte im Land.
Anschluss verpasst
Der Fotograf wollte herausfinden, wie es sich in einer Stadt lebt, die den Anschluss verpasst hat. Dazu hat er über zwei Jahre hinweg viele Woche in Denain verbracht und sich das Vertrauen von acht Familien erworben. Von den Erwachsenen arbeiten einige und kommen knapp über die Runden. Andere leben von staatlicher Hilfe.
Vincent Jarrousseau projiziert das Foto eines verhärmten Mannes an die Wand. Guillaume sitzt am Küchentisch und studiert Sonderangebote. Um seine Familie zu ernähren, kauft er oft Lebensmittel, deren Verfallsdatum gerade abläuft.
«Guillaume war ein Heimkind und ist nun Alkoholiker. Er bemüht sich, seine Kinder gut zu erziehen. Sein ältester Sohn Tanguy hat sogar das Abitur bestanden und zwei Jahre studiert», sagt Jarousseau.
«Macron ist gegen uns»
Die Gedanken der Protagonisten sind in Sprechblasen zu lesen. Tanguy sagt: «Ich will Arbeit finden, egal was.» Ein Foto zeigt, wie der 20-Jährige Brot ausliefert, nachts, 42 Stunden pro Woche, für den Mindestlohn.
Politisch tickt er wie viele Menschen in Denain. «Ich habe immer für Marine Le Pen gestimmt. Macron mag ich echt nicht. Der ist nicht für uns.» 57 Prozent der Wähler in Denain haben bei der Stichwahl für das Präsidentenamt 2017 für die rechtsextreme Parteichefin gestimmt.
Unbekannte Welten
Eine Schülerin fragt, warum sich Jarousseau ausgerechnet für die Armen interessiert. «Weil die Unterschichten in den Medien selten auftauchen, und wenn, dann eher karikaturartig oder negativ. Ich wollte diese ‹unsichtbaren› Menschen mit Würde behandeln.»
Der Fotograf verbringt den ganzen Tag in der Schule. Unermüdlich beschreibt er den täglichen Überlebenskampf einer Klasse, die eben nicht in Bewegung ist, «en marche» – nach dem Leitmotiv von Staatspräsident Macron.
Am Abend kehrt er in einer Brasserie ein und zeigt dem Wirt sein Buch. Joseph Sauvage liest einzelne Sprechblasen, nickt.
Letzte Hoffnung
«Genau so läuft es hier: Seit 25 Jahren gibt es keine Arbeit. Eltern, Kinder – immer das gleiche Problem. Viele sind Analphabeten. Aus denen wird nichts. Und niemand tut etwas, um Denain zu entwickeln.»
Am Sonntag stehen Kommunalwahlen an. Der Rassemblement National hat in Denain erstmals eine Liste aufgestellt. Der Wirt hofft, dass die Rechtsextremen die Sozialisten aus dem Rathaus drängen werden. Die etablierten Kräfte haben es auch bei ihm verspielt.