Der bekannte Alpenforscher und Kulturgeograf Werner Bätzing bezeichnet das Landleben als eine «gefährdete Lebensform». Er sagt aber auch, dass es Chancen und Möglichkeiten habe, die allen nützen würden, auch den Städtern. Aber dazu müssten bestimmte Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ein Gespräch über die Zukunft des Landlebens.
SRF: Noch bis vor Kurzem galt das Leben auf dem Land eher als borniert und rückständig. Doch seit Zeitschriften wie «Landlust» oder «Landliebe» auf dem Markt sind, ist das Landleben plötzlich schick. Warum?
Werner Bätzing: Meines Erachtens ist das eine Reaktion auf die Globalisierung. Viele Menschen fühlen sich verunsichert und abhängig von anonymen Strukturen, die sie nicht überblicken. Und da kommt plötzlich dieses Bild des Landes als Idylle hoch als Gegensatz zur bedrohlichen Globalisierung.
Ist das denn schlecht?
Ja. Es bietet weder eine Lösung, um die negativen Seiten der Globalisierung in den Griff zu kriegen, noch um auf dem Land zu leben oder das Land aufzuwerten. Diese Landidyllen sind geprägt von einem Bild, das keine Konflikte, keine Widersprüche und keine Probleme kennt. Damit kann man auf dem Land nichts anfangen. Das ist ein Kopfbild.
Sie bezeichnen in Ihrem Buch das Landleben als eine gefährdete Lebensform. Welches ist Ihrer Ansicht nach die grösste Gefahr?
Die Orientierung an einem städtischen Leben, das heisst an einem hochspezialisierten, hoch arbeitsteiligen Leben. Das gilt als Norm. Auf dem Land hingegen arbeiten Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft Hand in Hand, weil die Bevölkerungsdichte gering ist. Doch dieses regionale Miteinander wird im Verhältnis zur städtischen Spezialisierung als negativ bewertet.
Und was ist dagegen zu tun?
Beide Formen des Lebens müssen als gleichwertig betrachtet werden. Nur wenn es auch einen starken ländlichen Raum gibt, sind sowohl die Stadt als auch das Land lebensfähig.
In Ihrem Buch beschreiben Sie eindrücklich, wie viele Wirtschaften, Bäckereien und Metzgereien in den letzten 30 Jahren auf dem Land schliessen mussten, weil der Betrieb sich schlicht nicht mehr lohnt. Welche Gegenmassnahmen gibt es?
Zentral ist der Aufbau von multifunktionalen Strukturen. Es gibt viele dezentrale Initiativen, die durch staatliche und steuerpolitische Rahmenbedingungen benachteiligt werden. Denn nach wie vor gilt, dass Grossbetriebe gegenüber Kleinbetrieben massiv im Vorteil sind. Die Zukunft der Kleinen liegt im multifunktionalen Wirtschaften.
Wie stellen Sie sich das multifunktionale Wirtschaften konkret vor?
Ich stelle mir das als einen Laden vor, der ein Café hat, der zugleich noch eine Beratung hat, zum Beispiel vonseiten der Krankenkasse, der Zeitschriften verkauft und verschiedenste Aktivitäten anbietet.
Der Laden wird zu einem Dorf-Mittelpunkt.
Wenn man verschiedene Funktionen miteinander kombiniert, dann wird ein gewinnbringender Umsatz möglich. Zudem wird der Laden zu einem Dorf-Mittelpunkt. Das heisst, er hat neben der wirtschaftlichen Funktion auch eine kulturelle und soziale Aufgabe.
Das heisst aber auch, dass Sie entsprechendes Personal brauchen und höhere Personalkosten haben.
Richtig. Für Deutschland gibt es Berechnungen, die besagen, dass das bereits möglich wäre, ab einer Grösse von 1000 Menschen in einem Dorf.
Die Corona-Krise hat einiges über den Haufen geworfen. Augenfällig waren die ausgestorbenen Städte und die belebten Naherholungsgebiete. Liegt die Zukunft nun doch auf dem Land?
Es sah am Anfang so aus, als würde das Land durch die Krise deutlich aufgewertet, weil es nicht so stark vom Zusammenbruch der globalen Strukturen betroffen war wie die Stadt. Aber ich denke, wenn die Corona-Krise in absehbarer Zeit überwunden sein wird, dann wird das wieder vergessen sein.
Haben Sie ein Wunschszenario für die Zukunft des Landlebens?
Ja. Das Land soll dezentral besiedelt und genutzt werden, und zwar in umweltverträglichen Formen statt dass wenige Grossbetriebe extrem billige Lebensmittel produzieren.
Die agro-industriellen Grossbetriebe sind deshalb so produktiv, weil sie die Umwelt zerstören: Sie reduzieren die Artenvielfalt, belasten das Grundwasser und die Lebensmittel mit Rückständen aus der gesamten Produktion. Das heisst, der Erfolg der billigen Lebensmittel gefährdet die Umwelt und die menschliche Gesundheit und zieht Folgekosten in anderen Bereichen nach sich.
Demgegenüber wünsche ich mir eine quasi basisdemokratisch geprägte Gemeinschaft, in der die Menschen vor Ort grosse Freiheiten haben, ihre Entwicklung zu gestalten, und nicht von der Politik gezwungen werden, dies oder das zu machen. Zu einem lebendigen Dorfleben gehört auch eine grosse Eigenverantwortung.
Wie sieht diese Eigenverantwortung aus?
Die Menschen auf dem Land müssen kreativ und findig werden. Wenn man nach dem städtischen Prinzip der Spezialisierung denkt, dann funktioniert es nicht. Man muss anders denken: Es gibt viele Beispiele, wie man lokale Ressourcen aufwerten kann – mit regionalen Produkten oder Bioprodukten, mit ländlichem Tourismus oder mit multifunktionalen Läden.
Das Gespräch führte Sandra Leis.