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Badekulturen Wenn die Grossstadt ein Kurort ist

Mit 120 heissen, sprudelnden Quellen gilt Budapest als grösster Kurort Europas. Die Thermalbäder der ungarischen Hauptstadt erfreuen sich bei Party- und Rucksacktouristen aus aller Welt immer grösserer Beliebtheit. Die alteingesessenen Badegäste fühlen sich zunehmend an den Rand gedrängt.

Das ehrwürdige Széchenyi-Bad im Budapester Stadtwäldchen kommt nie zur Ruhe. Es ist an 365 Tagen im Jahr von frühmorgens bis spätabends geöffnet. «Reinigungs- und Reparaturarbeiten müssen wir stets in der Nacht durchführen», klagt Direktor Sandor Nadhazi. Mal für einen Tag zu schliessen, das kann oder will sich der Chef des grössten Bäderkomplexes in Europa aber nicht leisten. Schliesslich ist das Bad eine Goldgrube: Täglich begehren bis zu 6000 Gäste Einlass.

Party im neobarocken Erlebnisbad

In einem hohen Innenbad sind einige Menschen in hellblauem Wasser.
Legende: Drinnen, im Thermalbereich, geht es ruhig zu: Hierher kommen die Gäste noch zur Kur. Marc Lehmann

Samstags gibt’s für die Jugend Disco im neobarocken Gemäuer, bis 3 Uhr nachts. U30 hat im Thermalbad Ü60 als Stammpublikum abgelöst. Vor allem der Freiluftbereich mit seinen riesigen, bis zu 38 Grad warmen Becken ist zum Erlebnisbad umfunktioniert worden. Drinnen im Thermalbereich geht es ruhiger zu: Hier finden sich die Gäste, die wirklich noch zu Heilungs- und Therapiezwecken hier sind – dem eigentlichen Kerngeschäft des Kurbads.

Seit aber der Massentourismus die Heilbäder entdeckt hat, können sich die einheimischen Stammgäste die gestiegenen Eintrittspreise kaum noch leisten. Dennoch gibt es Besucher, die täglich kommen. Direktor Nadhazi erwähnt die legendären Schachspieler, die sich – im warmen Wasser stehend – auf Brettern aus Gummi eine Partie nach der andern liefern und dabei ein attraktives Fotosujet abgeben.

Nicht überall sind die amerikanische Touristinnen

Baden in Budapest: Das ist auch ein gesellschaftliches Ereignis. Wie man ins Kaffeehaus geht, geht man ins Bad – es ist ein sozialer Treffpunkt, hier wird diskutiert und politisiert. Und nicht alle der 21 Bäder, die heute in Budapest existieren, werden wie das Széchenyi von den Massen beschlagnahmt. Es gibt sie noch, die versteckten Perlen. Es sind die Bäder, die nach aussen ein gewisses Hygienedefizit vermuten lassen – «so dass sich die amerikanischen Touristinnen nicht hineinwagen», wie Bäder-Experte Nadhazi schmunzelnd sagt.

In einer geschmückten, hohen Eingangshalle sitzen ein paar Menschen auf Bänken.
Legende: Nach dem Bade genehmigt man sich in der neobarocken Eingangshalle einen Aprikosen-Palinka. Marc Lehmann

Die Geschichte der Budapester Bäder reicht bis in die Römerzeit zurück. Bereits im 2. Jahrhundert wurden die ersten Thermen entdeckt. So richtig als Bäderstadt etablierte sich Budapest ab dem 16. Jahrhundert, als die türkischen Besatzer ihre Badekultur einführten. Das Konzept des Hammams ist bis heute populär. Ende des 19. Jahrhunderts, zu K & K-Zeiten, wurden zusätzliche Bäder als monumentale Repräsentativ-Bauten errichtet.

Schwimmen, Dampfbad, Sauna, Schnaps

Heute zeichnet sich jede Budapester Therme durch eine gewisse Eigenart aus. Und während man im einen Bad nur mit einem leichten Leinentüchlein den Schambereich zu verdecken braucht, sind anderswo Badeanzug und Badekappe erwünscht. Auch die Baderituale unterscheiden sich. Manche Gäste kommen zum Schwimmen und drehen ihre paar Runden. Andere gehen ein aufwändiges Prozedere durch: Sie beginnen in der Sauna, kühlen sich im 16-Grad-Becken ab, begeben sich ins Dampfbad, bevor sie sich zunächst im lauwarmen (30 Grad), später im sehr warmen (40 Grad) Wasser den heilenden Kräften aussetzen – und sich zum Schluss in der Eingangshalle einen hausgebrannten Aprikosen-Palinka genehmigen.

Audio
Sommerserie Badekultur: Ungarn
aus Kultur kompakt vom 25.07.2014.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 56 Sekunden.

Nur etwas ist in allen Bädern gleich: Die ganz in Weiss gekleideten, mürrischen Garderoben-Aufseher, die mit Kreide unlogische Nummern auf Umkleidekabinen kritzeln und kein Wort einer Fremdsprache sprechen – sie haben den Sprung ins Dienstleistungszeitalter noch nicht geschafft. Und gingen gut auch als Gefängniswärter durch.

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