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Basler Lehrerinnenstreik Wie eine Lehrerin das Rollenbild der Schweiz erschütterte

Weil die Schweizer Männer 1959 das Frauenstimmrecht ablehnen, tritt eine Gruppe Basler Pädagoginnen in den Streik. Die letzte lebende Teilnehmerin erzählt von ihrem aufsehenerregenden Protest.

Luciana Thordai-Schweizer erinnert sich noch gut an den Moment, als der Beschluss gefasst wurde, zu streiken: Es ist ein Montagmorgen, und die junge Lehrerin erscheint ganz normal zu ihrer Arbeit am Mädchengymnasium in Basel. Damals gibt es noch getrennte Aufenthaltsräume, einen für das weibliche Lehrpersonal und einen für die Männer. Im Lehrerinnenzimmer herrscht an diesem Morgen Entschlossenheit: Es muss etwas getan werden.

Schwarz-weiss-Bild von einem Mann mit Mantel und Hut auf einer Treppe. Im Hintergrund mehr Menschen und ein Gebäude
Legende: Stimmberechtigte beim Verlassen eines Abstimmungslokals in Zürich: Am 1. Februar 1959 wurde über die Einführung des Frauenstimmrechts abgestimmt. KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Bischofberger

Denn einen Tag zuvor, am 1. Februar 1959, hatte die erste eidgenössische Volksabstimmung über die Einführung des Frauenstimmrechts stattgefunden. Das Ergebnis war vernichtend: Zwei Drittel der Schweizer Männer stimmten mit Nein. Einzig in den welschen Kantonen Genf, Waadt und Neuenburg fand sich eine Mehrheit für das Frauenstimmrecht.

Obwohl mit einem Nein gerechnet wurde – alle bisherigen Versuche, das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene einzuführen, waren gescheitert –, überraschte die Deutlichkeit des Ergebnisses.

Streik bleibt unter Verschluss

Es war Rut Keiser, die die Idee eines Streiks ins Spiel brachte, erinnert sich Luciana Thordai-Schweizer. Eigentlich ist ihre Lehrerkollegin damals schon pensioniert, doch sie ist noch immer an der Schule aktiv. Seit Jahrzehnten setzt sich Keiser für die Einführung des Frauenstimmrechts ein.

Schnell wird eine Liste erstellt, in der sich alle eintragen, die mitmachen wollen. Auch Luciana Thordai-Schweizer trägt ihren Namen ein. Dabei ist ihr das Frauenstimmrecht zu diesem Zeitpunkt persönlich noch nicht so wichtig: «Ich hatte mich noch nicht so sehr damit beschäftigt, aber ich habe aus Kollegialität mitgemacht», sagt sie.

Treppenaufgang eines grossen Backsteingebäudes. Neben der Treppe ist eine Statue zu sehen
Legende: Das heutige Gymnasium Leonhard Basel. Zum Zeitpunkt des Streiks ist das Schulhaus ein reines Mädchengymnasium. SRF / Janis Fahrländer

Die Lehrerinnen beschliessen Stillschweigen über ihr Vorhaben. Niemand soll frühzeitig davon erfahren und so den Plan in Gefahr bringen. Das gilt vor allem für die männlichen Lehrerkollegen, die bewusst nicht eingeweiht werden. Luciana Thordai-Schweizer bereitet ganz normal ihre Stunden für den nächsten Tag vor, als wäre nichts geschehen.

Bruch mit Konventionen

Die junge Lehrerin sei nervös gewesen: «Ich wusste nicht, ob sich die anderen auch an den Aufruf halten werden. Und mir war klar, dass ich die Stelle riskierte», erinnert sich Thordai-Schweizer. Erst als es an ihrer Tür klingelt und eine ganze Schulklasse vor ihrem Haus steht, weiss Thordai-Schweizer, dass der Streik funktioniert hat. Die Schülerinnen erzählen, wie der Rektor sie alle nach der ersten Stunde nach Hause geschickt habe.

Porrätbild einer älteren Frau mit Haarreif und gelber Strickjacke. Im Hintergrund: Eine Bücherwand und Bilder
Legende: Luciana Thordai-Schweizer hat als junge Lehrerin mitgestreikt. Heute ist sie die letzte noch lebende Teilnehmerin des Basler Lehrerinnenstreiks von 1959. Luciana Thordai-Schweizer

Thordai-Schweizer bittet die Mädchen zu sich herein in die kleine Einzimmerwohnung, um ihnen alles zu erklären. Das Ausmass des Streiks erkennt sie allerdings erst, als sie in den Mittagsinformationen des damaligen Radio Beromünster einen Beitrag zu ihrem Streik hört. «In dem Moment war ich wahnsinnig stolz.»

Wenn Frauen Vorschriften brachen, löste das grosse Aufregung aus. Das spiegelt die gesellschaftliche Realität der Zeit sehr gut wider.
Autor: Noëmi Crain Merz Historikerin

Ein Streik ist zu dieser Zeit in der Schweiz unüblich. Entsprechend gross ist die Aufregung. Erst recht, weil es Frauen sind, die streiken. Das hatte fast etwas Revolutionäres, meint die Historikerin Noëmi Crain Merz: «Die Tatsache, dass die Vorschriften überhaupt gebrochen wurden, und zwar von Frauen, und die grosse Aufregung, die dies auslöste, spiegelt die gesellschaftliche Realität der damaligen Zeit sehr gut wider», sagt sie.

Ein grosser Teil der männlichen Bevölkerung betrachtet Frauen noch als politisch unmündig. Umso grösser ist daher die Überraschung, dass nun plötzlich eine Gruppe Frauen lautstark ihre Rechte einfordert. Mit dem Streik brechen die Lehrerinnen gleich mit mehreren gesellschaftlichen Tabus.

Gegenbild zum damaligen Frauenmodell

Die 1950er-Jahre sind in der Schweiz von einem konservativen Geschlechterbild geprägt. Wirtschaftlich geht es in dieser Zeit vorwärts. Viele Familien, auch aus der Arbeiterschicht, können sich erstmals das «Ein-Ernährer-Modell» leisten. Der Vater geht arbeiten, die Mutter kümmert sich um Haushalt und Familie.

Es waren vor allem alleinstehende, intellektuelle Frauen, die für das Frauenstimmrecht gekämpft haben.
Autor: Noëmi Crain Merz Historikerin

Dieses Ideal besteht zwar schon länger, wird dank des Wirtschaftswachstums der Nachkriegsjahre für viele aber erst jetzt möglich. Für Frauen ist Arbeit verpönt, es sei denn, sie müssen. «Die Rollen sind klar verteilt», sagt Noëmi Crain Merz.

Schwarz-weiss-Bild eines Werbeplakats auf das ein Spruchband aufgeklebt ist. Darauf steht: «Nicht ohne mein Stimmrecht»
Legende: Abstimmungskampf um das Frauenstimmrecht: Während Befürwortende mit den Menschenrechten argumentieren, führten Gegner grundlegende Unterschiede in den Geschlechterrollen an. KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Alphons Biland

Es sei kein Zufall, dass es trotz dieses gesellschaftlichen Klimas ausgerechnet an einer Schule zum Streik gekommen ist. «Viele Lehrerinnen waren in den Frauenstimmrechtsverbänden vertreten. Es waren vor allem alleinstehende, intellektuelle Frauen, die für das Frauenstimmrecht gekämpft haben.»

Wer heiratet, muss damals den Beruf als Lehrerin aufgeben. Einzig eine Anstellung als Vikarin, mit deutlich niedrigerem Lohn, bleibt als Möglichkeit offen. Die Lehrerinnen verkörpern eine Art Gegenmodell zum damals vorherrschenden Frauenbild.

Ungeahnte Tragweite bis nach New York

Der Streik sorgt weit über Basel hinaus für Aufsehen. Sogar die «New York Times» berichtet über das Ereignis und stellt dabei verwundert fest, dass die Schweiz einer Hälfte der Bevölkerung das Wahlrecht verweigert.

Während die Politik den Streik weitgehend verurteilt, erhalten die Lehrerinnen aber auch viel Zuspruch. In den Tagen nach dem Streik erreichen sie zahlreiche Briefe. Auch wenn einige inhaltlich unter die Gürtellinie gehen, so überwiegen doch die positiven, erinnert sich Luciana Thordai-Schweizer.

Der lange Weg zum Frauenwahlrecht

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Obwohl die Forderungen nach der Einführung des Frauenstimmrechts seit Jahrzehnten bestehen, kommt es erst am 1. Februar 1959 zur ersten landesweiten Abstimmung. Davor waren verschiedene Motionen und eine Petition mit über 200'000 Unterschriften vom Bundesrat jahrzehntelang bewusst ignoriert worden. Auch wenn das Parlament dem Bundesrat den Auftrag gibt, eine Vorlage auszuarbeiten, geschieht dies nicht aus Überzeugung.

Viele erklärte Gegner stimmen im Parlament für eine Abstimmung. Sie spekulieren auf ein klares Nein. Damit soll das aus ihrer Sicht leidige Thema endlich vom Tisch sein. Ihr Kalkül geht vorerst auf: 67 Prozent und alle Kantone bis auf Genf, Waadt und Neuenburg sprechen sich gegen das Frauenstimmrecht aus.

Es dauert weitere zwölf Jahre, bis 1971 der Druck aus dem In- und Ausland so gross wird, dass es erneut zu einer Abstimmung kommt. Diese wird schliesslich mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen.

Für ihre Aktion werden die Lehrerinnen verhältnismässig milde bestraft. Die zuständige Kommission zeigt Verständnis für die Anliegen des Streiks und belässt es bei einem symbolischen Lohnabzug für einen Tag. 

Geist des Streiks lebt weiter

Aus dem Mädchengymnasium ist heute das Gymnasium Leonhard in Basel geworden. Der Streik ist bis heute im Schulhaus sichtbar. Am Eingang erinnert eine Gedenktafel an die damaligen Ereignisse, eine Informationstafel auf einem Gang klärt die Schülerinnen und Schüler über die Vergangenheit auf.

Rut Keiser, Initiatorin des Streiks, wird mit einem Porträt im «Zimmer der Lehrkräfte» geehrt. Demnächst soll eine Strasse in Basel nach ihr benannt werden.

Gedenktafel an den Lehrerinnenstreik in einer Vitrine
Legende: Eine Gedenktafel in einer Vitrine am Eingang des heutigen Gymnasium Leonhard erinnert an den Lehrerinnenstreik von 1959. SRF / Janis Fahrländer

Der Geist des Lehrerinnenstreiks lebt bis heute weiter, noch weit über Basel hinaus. Er könne durchaus als Ursprung des modernen, landesweiten Frauenstreiks bezeichnet werden, sagt die Historikern Noëmi Crain Merz. Zwar seien die beiden Ereignisse in der Grösse nicht miteinander vergleichbar.

Inhaltlich liesse sich aber durchaus eine Kontinuität erkennen: «Es war kein arbeitsrechtlicher Streik, diesen Frauen ging es vielmehr um etwas Grundsätzliches.» Dies war damals ein Novum in der Schweiz.

Luciana Thordai-Schweizer hat an keinem der modernen Frauenstreiks teilgenommen. Die Bewegung, die sie und ihre Kolleginnen vor über 60 Jahren vorgelebt haben, unterstütze sie aber voll und ganz. «Es ist richtig, dass es weitergeht. Ich finde, ich habe meinen Teil geleistet. Andere sollen jetzt kämpfen», sagt sie.

Radio SRF 4 News, Zeitblende, 29.07.2023, 10:03 Uhr

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