Was gewichten wir höher? Das Leben von besonders gefährdeten Personen oder die wirtschaftlichen Interessen von Menschen, die Arbeit, Einkünfte und Perspektiven verlieren? Die Corona-Pandemie stellt die Gesellschaft vor knifflige ethische Fragen.
Von einer «problematischen zeitlichen Ausdehnung der Freiheitsbeschränkungen» spricht nun die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin NEK. Die «Abhängigkeit der Politik von virologischen und epidemiologischen Lageeinschätzungen und Prognosen» sei während der ersten Pandemiewelle entstanden.
Medizinische Logik überbewertet
Die aktuelle Stellungnahme der Ethikkommission erteilt der Politik des Bundesrates zwar keine Noten, moniert jedoch: Die staatlichen Massnahmen folgten einer «engen medizinischen Logik». Auf der Strecke geblieben sei die Solidarität unter den Generationen.
Die Massnahmen hätten zudem bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten verstärkt. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen seien doppelt benachteiligt: Sie könnten sich weniger vor Ansteckung schützen und die sozialen und finanziellen Folgen der Pandemie nicht kompensieren.
Einschränkungen können Leben gefährden
Die medizinische Optik habe die Aufmerksamkeit für andere verletzliche gesellschaftliche Gruppen eingeschränkt: für Kinder, Jugendliche, alleinerziehende Mütter und Väter und psychisch und chronisch Kranke. Die NEK folgert: Mittel- und langfristig könnten freiheitseinschränkende Massnahmen «selbst gesundheits- und auch lebensgefährdende Wirkungen entfalten».
Die Ethikkommission veröffentlicht immer wieder Dokumente zur Pandemiesituation in der Schweiz. Ihre Mitglieder sind aber nicht wie Virologinnen oder Ärzte regelmässig bei den Pressekonferenzen des Bundes dabei.
Es gibt keine einfachen Rezepte
Wie weiter? Die Ethikkommission nennt keine Rezepte. Es gelte weiter eine Güterabwägung vorzunehmen. Risikogruppen sollen jedoch besonders geschützt und wie vorgesehen in erster Priorität geimpft werden.
Jugendlichen beispielsweise sollen für sportliche Aktivitäten Ausnahmen von den allgemeinen Einschränkungen gewährt werden. Dies solle auch für bestimmte Betriebe gelten, die besonders von den Restriktionen betroffen sind.
Der Theologe und Ethiker Frank Mathwig ist Teil der Nationalen Ethikkommission und plädiert im Gespräch mit SRF dafür, Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie laufend ethisch zu beurteilen.
Eine Gesellschaft von Feuerwehrleuten
Frank Mathwig beobachtet einen Lernprozess: «In der Anfangsphase waren wir eine Gesellschaft von Feuerwehrfrauen und -Männern. Da ging es darum, rasch auf eine Katastrophe zu reagieren. Dann wurden wir zu Krisenmanagern. Wir wussten nicht, wie lange das Haus brennt. Und jetzt werden wir als Gesellschaft zu Therapeutinnen und Therapeuten.»
Die Politik habe erst einmal eine technische Lösung gesucht. Frank Mathwig meint: «Erst langsam haben wir gelernt, dass wir nicht ein technisches, sondern ein globales Problem haben».
Beim Impfpass geht es um Grundrechte
Heikle ethische Fragen stellen sich auch im Zusammenhang mit der Impfung gegen das Coronavirus. Die Nationale Ethikkommission spricht sich gegen ein Impfobligatorium aus. Doch darf, wer sich impfen lässt, von Privilegien wie Ferienreisen oder dem Besuch von Festivals profitieren?
Frank Mathwig hält es für einen Irrtum, hier von Privilegien zu sprechen. Er präzisiert: «Es geht um Grundrechte, die Personen erhalten oder die wir ihnen vorenthalten». Geimpfte erhielten ihre vom Rechtsstaat garantierten Freiheitsrechte zurück, zum Beispiel das Recht auf Reisefreiheit.
Das vorsichtige Abwägen von Massnahmen in der Corona-Pandemie geht weiter. Die ethische Sicht ergänzt die epidemiologische Sicht und stellt die Frage nach Gerechtigkeit und Solidarität.