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Berufstätig über 65 Ruhestand? Fehlanzeige! Warum Rentner die Arbeit nicht loslassen

Fast ein Viertel der Schweizer und Schweizerinnen zwischen 65 und 69 Jahren ist berufstätig – der Grossteil davon aus Leidenschaft.

«Als Elektrokontrolleur bin ich in den Haushalten, habe Kontakt mit der Kundschaft. Das macht mir Spass», sagt Roland Amsler aus Dintikon AG. Der 66-Jährige ist einer von 190'000 Menschen im Rentenalter, die in der Schweiz einem bezahlten Beruf nachgehen. Amsler kontrolliert seit 33 Jahren Installationen in Wohn- und Gewerbehäusern und auf Baustellen.

«Ich habe grosse Freude am Beruf, und die Jungen wollen das nicht unbedingt machen. Sie sagen, die Kunden mögen den Kontrolleur nicht besonders. Ich komme da rein, kontrolliere, finde ein paar Fehler – das kostet Geld. Als Kontrolleur geht man wegen der Sicherheit in die Häuser. Ich finde das nach wie vor spannend», sagt Roland Amsler.

Bei Selbstständigen stehen häufiger finanzielle Motive im Vordergrund, weil ihre Pensionskassenguthaben oft geringer sind.
Autor: Jonathan Bennett Altersforscher und Psychologe

Seine Jahrgänger in der Musikgesellschaft arbeiten noch fast alle. Von seiner einstigen Primarschulklasse vor allem Frauen, oft in der Pflege.

Wer arbeitet weiter – und warum?

Ob jemand im Rentenalter erwerbstätig bleiben will, hängt laut einer Studie des Versicherers Swiss Life von vier Faktoren ab: von der Gesundheit, dem Arbeitsklima, der Wertschätzung der Arbeitgebenden und dem Geld.

In der Schweiz leisten 30 Prozent der Männer und 21 Prozent der Frauen zwischen 65 und 69 bezahlte Arbeit, das sind insgesamt 23 Prozent dieser Altersklasse.

«Das Interesse am Weiterarbeiten nach 65 ist bei Leuten in Führungspositionen stärker ausgeprägt, und in solchen Stellungen arbeiten eben mehr Männer», erklärt Jonathan Bennett die unterschiedliche Erwerbsquote von Rentnerinnen und Rentnern. Er ist Altersforscher und Psychologe sowie Co-Leiter des Instituts Alter der Fachhochschule Bern.

Die Hälfte der Ü-65-Arbeitenden sind Selbständige. «Bei ihnen stehen häufiger die finanziellen Motive im Vordergrund, weil ihre Pensionskassenguthaben oft geringer sind», so Bennett. Die andere Hälfte bilden Angestellte wie Roland Amsler.

Weniger Hürden in kleineren Betrieben?

Den Job fortsetzen wollen gemäss der Swiss-Life-Studie vor allem Mitarbeitende in Kleinbetrieben mit bis zu neun Personen. In Unternehmen mit 250 und mehr Stellen macht hingegen kaum jemand weiter. «Der Entscheid, weiterarbeiten zu können, ist das Ergebnis eines längeren Prozesses», sagt Jonathan Bennett: «Dazu braucht es das Gespräch und ein Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Angestellten. Vermutlich ist das in kleineren und mittleren Betrieben eher möglich, weil man sich bis in die Führungsetage besser kennt.»

Rat vom Experten: Rente frühzeitig planen

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Wer weiterarbeitet und das Administrative vernachlässigt, erhält plötzlich Geld aus drei Quellen: Lohn, AHV und Pensionskasse. Um eine Explosion der Steuerrechnung zu vermeiden, kann man bis zum 66. Geburtstag bei der Ausgleichskasse einen Aufschub der Rente anmelden.

Spätere AHV-Rente bedeutet höhere Rente: 5.2 Prozent mehr bei einem Aufschub um ein Jahr – mit einer schrittweisen Erhöhung bis zum 70. Altersjahr. Wer Lohn bezieht, entrichtet bei einem Jahreseinkommen über 16'800 Franken obligatorisch auch AHV-Beiträge. In die Pensionskasse einzahlen kann man mit Einverständnis des Arbeitgebers ebenfalls, wenn der Verdienst über 22'050 Franken beträgt.

Auf Laien wirkt das Gesetzesdickicht kompliziert. Der Finanzplaner Daniel Derendinger, Geschäftsführer der AVA Concept AG in Bern, rät dazu, frühzeitig den Rat von Fachleuten einzuholen und gut zu planen. Denn was von Vorteil ist, hängt von der individuellen Situation ab, u. a. Zivilstand, Nachkommen, Vermögen oder Einkommen.

30 Personen beschäftigt die Elektrofirma, für die Roland Amsler arbeitet. «Als ich vor 33 Jahren eintrat, waren wir zu fünft», sagt er. Frühmorgens trinkt er jeweils mit dem Chef einen Kaffee und bespricht, was anfällt. Das haben sie über die Jahre immer wieder getan. Dieser enge Kontakt war auch wertvoll, als es darum ging, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen.

«In der Corona-Zeit, als ich 63 war, gab es etwas Unruhe im Betrieb, da habe ich mein Pensum bereits reduziert», erinnert sich Amsler. «Als ich die Pensionierung anstrebte, haben wir uns zusammengesetzt, und der Chef fragte mich: ‹Könntest du dir vorstellen, das noch eine Weile zu machen? Ich habe gerade niemanden, du siehst das ja selbst.› Ich sagte, das sei für mich kein Problem. Wir haben das ‹gebrettelt›, und es passt für uns beide.»

Arbeiten soll flexibel bleiben – für alle

Roland Amsler arbeitet zwei Tage pro Woche. So bleibt ihm als Grossvater Zeit für die Familie, die Musikgesellschaft und fürs Biken. «Die Vereinbarkeitsthematik ist auch für Pensionäre wichtig», erläutert Jonathan Bennett. Denn vielleicht müsse sich jemand um die hochbetagten Eltern kümmern.

Unternehmen müssten deshalb über flexiblere Arbeitsbedingungen für Ältere nachdenken. Was auch dem Wissensverlust bei Pensionierungen entgegenwirkt – und dem Fachkräftemangel.

In vielen Betrieben wird die Pensionierung mit 65 als etwas sehr Verdientes angesehen. Dadurch wird vielleicht zu wenig hinterfragt, ob eine Verlängerung des Beschäftigungsverhältnisses nicht sinnvoll wäre.
Autor: Jonathan Bennett Altersforscher und Psychologe

Die Erwerbstätigkeit Älterer schmälere nicht, dass diese sich ehrenamtlich, sozial oder kulturell engagieren, was für die Gesellschaft unverzichtbar ist. Die Arbeitsquote von Pensionierten sei zu niedrig, als dass sich dies auf die Freiwilligenarbeit auswirken könnte, sagt Bennett. Zumal Erwerbstätige im Rentenalter laut «Swiss Life» durchschnittlich 46 Prozent arbeiten. «Das lässt sich gut mit einem freiwilligen Engagement kombinieren.»

«Die Existenzsicherung in der Schweiz funktioniert»

In den 38 Staaten der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) arbeiten 27 Prozent der 65- bis 69-Jährigen. In der Schweiz weniger. «Das spricht dafür, dass die Schweizer Altersvorsorge diesen Altersrücktritt erlaubt, die Existenzsicherung funktioniert also», erklärt Jonathan Bennett. Und: «In vielen Betrieben wird die Pensionierung mit 65 als etwas sehr Verdientes angesehen.» Dadurch werde vielleicht zu wenig hinterfragt, ob es nicht sinnvoll wäre, ein Beschäftigungsverhältnis zu verlängern.

Auch auf Stereotype über Ältere kommt der Altersforscher zu sprechen, nämlich «dass sie sich mit Wandel eher schwertun, änderungsresistent oder sogar widerborstig sind, vielleicht auch nicht so digitalaffin». Diese Vorstellungen seien zwar «nicht gut belegt», würden sich aber hartnäckig halten. Ältere würden auch nicht den Jüngeren Jobs wegnehmen, wie es bisweilen heisst.

Die Bevölkerungsstatistik zeige, dass die Jüngeren zu wenig zahlreich sind, um die Lücken zu füllen, die durch die Pensionierungswelle der Babyboomer entstehen. Wenn Unternehmen ihre Aufgaben weiterhin gut ausführen wollten, könnten sie auf das Know-how der Älteren schlicht nicht verzichten.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 18.10.2024, 9:03 Uhr

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