Herr Lemke, was ist die Gastrosophie?
Harald Lemke: Sie ist der Versuch, eine philosophische Haltung zum Essen zu bekommen. Wenn man sich fragt «Wie denken wir eigentlich übers Essen?», dann gibt es einerseits den weltlichen Ansatz: Was muss ich einkaufen, kochen und so weiter. Andererseits kann man das als Philosoph ganzheitlich und transdisziplinär verstehen.
Aber reden wir nicht alle schon genug übers Essen?
Das wäre schön. Aber es wird zu wenig darüber geredet im Sinne einer gesellschaftlichen Problematik. Wir konsumieren, denken vielleicht noch über Kalorien nach, das war's dann. Aber jedes Mal, wenn ich esse, greife ich in die Welt ein. Wir werden immer mehr Menschen auf diesem Planeten, das führt dazu, dass wir immer mehr Ressourcen benötigen. Doch die sind nicht endlos.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn wir uns klar machen, dass wir für die Herstellung von einem Kilogramm Reis rund 106 Liter Wasser benötigen, für die Herstellung von einem Kilogramm Rindfleisch rund 15'000 Liter Wasser, dann merken wir schnell, dass es so nicht weitergeht. Wir müssen uns überlegen, wie wir intelligent mit unseren Ressourcen umgehen können.
Bedeutet das, dass wir kein Fleisch mehr essen dürfen?
Studien belegen, dass es uns besser gehen würde auf diesem Planeten, wenn wir weniger Fleisch essen würden. Auch in Punkto Massentierhaltung würden wir deutliche Akzente setzen. Und wir würden eine Welt schaffen, die nachhaltig ist für kommende Generationen. Ganz konkret heisst das: ja, wir müssen weniger Fleisch essen. Das ist aber auch kein Drama.
Können wir Ethik und Genuss verbinden?
Die gute Nachricht ist: wir können gut essen, ohne dass wir den Tod eines Tieres dafür in Kauf nehmen müssen. Etwas mehr kulinarische Phantasie, bitte. Es gibt viele, sehr viele Belege dafür, dass eine gute Küche mit weniger oder ganz ohne Fleisch auskommen kann. So kann man ethisches Handeln durchaus mit Genuss verbinden.
Läuft es darauf hinaus, dass wir alle zu Vegetariern oder sogar zu Veganern werden müssen?
Ich würde sagen: Lebe so viel Veganismus wie Du kannst. Es darf kein «Du sollst» sein. Ich plädiere für einen gastrosophischen Hedonismus. Der besteht darin, dass wir uns wieder mehr Zeit lassen für das Essen. Das bedeutet auch, dass wir vielleicht alle Teilzeitbauern werden müssen. Urban Gardening ist meiner Meinung nach kein kurzfristiger Trend. Wenn ich meine Lebensmittel teilweise selbst produziere, bekomme ich einen ganz anderen Bezug zu dem, was ich esse.
Aber ist das alles nicht ein wenig zynisch angesichts des Welthungers?
Das steht im unmittelbaren Zusammenhang. Immer noch leiden rund 800 Millionen Menschen auf der Welt Hunger. Ein Schritt, sie aus der Armut zu befreien, wäre, dass wir nicht mehr in unseren Supermärkten Billigprodukte kaufen. Denn das bedeutet, dass diese Menschen weiterhin schlecht bezahlt werden, weiterhin zu wenig Geld zum Essen haben. Es geht da um fairen Handel. Wenn wir unser Ess- und Konsumverhalten verändern, können wir damit Einfluss nehmen auf die grossen Lebensmittelkonzerne.
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Aber wie erreicht man die Menschen mit diesen Botschaften?
Die Grosswetterlage ist, dass wir schon früh eine grundsätzliche Abwertung des Essens vornehmen. Weil Essen uns in die Nähe von Tieren bringt. Also tun wir so, als wäre Essen nebensächlich. Aber wir haben keine Nahrungsinstinkte wie die Tiere. Also müssen wir unser Hirn benutzen, um zu wissen, wie wir uns richtig ernähren. Wir sollten also alle versuchen, das Essen in seiner grossen Bedeutung neu zu entdecken. Alltäglich. Anthropologisch.