«Mir wurde schon früh gesagt, dass ich vom Teufel besessen sei», erinnert sich MarieLies Birchler heute. «Ich denke, ich war einfach anders. Sie wollten mich brechen. Um jeden Preis.»
Angeblich zur Erholung kam sie 1951 ins Waisenheim in Einsiedeln. MarieLies Bichler war unterernährt und verwahrlost, als sie in die Obhut der Ingenbohler Schwestern gebracht wurde.
Doch der Kur-Aufenthalt war in Wirklichkeit eine fürsorgerische Zwangsmassnahme und was MarieLies Birchler im Waisenheim erlebte, war alles andere als erholsam.
Ohne Essen auf dem Estrich eingesperrt
Weil sie ein wildes Kind war und ins Bett machte, wurde sie von den Nonnen geschlagen. Sie wurde in eiskaltes Wasser getaucht, bis sie keine Luft mehr bekam. Sie wurde ohne Essen im Estrich eingesperrt.
Kraft gab ihr damals die Flucht in schönere Gedankenwelten: «Wenn ich Hunger hatte auf dem Estrich, dann habe ich mir vorgestellt: Tischlein, deck dich – nur die besten Sachen. Wir hatten minderwertiges Essen.»
Was MarieLies Birchler erlebt hat, haben auch viele andere Kinder in der Schweiz erlebt. Mit sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wurden sie von den Behörden bis in die 1980er-Jahre den Eltern entrissen, umplatziert oder in Heime gesperrt.
Sechs Schicksale
Solche Schicksale werden im Film «Hexenkinder» porträtiert: Sechs Menschen, die zwangsversorgt wurden und viel Gewalt erleben mussten. Auch im Namen der christlichen Religion.
Mit den körperlichen und seelischen Folgen der Misshandlungen hat Birchler bis heute zu kämpfen. Ihr ist es wichtig, dass die Gesellschaft weiss, was damals passiert ist.
Darum hat sie im Film «Hexenkinder» mitgewirkt: «Die Menschen sollen wissen, was alles in dieser ‹heilen› Schweiz passiert ist. Das ist wichtig, auch für die Betroffenen. Für alle, die es nicht überlebt haben, die sich in frühen Jahren suizidiert haben wie etwa mein Bruder Hanspeter.»
Wichtig sei es auch für Erzieherinnen und Lehrer von heute: Dass sie solche Geschichten kennen, für das Thema Kindesmisshandlung sensibilisiert sind. Mit dem Film will MarieLies Birchler zudem Betroffenen Mut machen, hinzustehen und ihre Geschichte zu erzählen.
Der Schmerz bleibt
Ihre eigene Geschichte hat sie in den letzten Jahren oft erzählt – in Therapiestunden, bei Ärztinnen, aber auch gegenüber Historikern, welche die Geschichte von administrativ versorgten Kindern aufarbeiten.
Versöhnung hat Birchler in diesem Prozess vor allem mit sich selbst gefunden: «Das braucht Zeit», erzählt MarieLies Birchler. «Ich kann mich mit meinem Schicksal versöhnen, das Erlebte in mein Leben integrieren. Wobei es immer schmerzhaft bleiben wird und es sich immer wieder zeigt.»
Wie etwa diesen Frühling, als wegen Corona das Leben stillstand und alte Ängste wieder hochkamen. Als die das Gefühl hatte, eingesperrt und isoliert zu sein.
Solche Narben würden bleiben, sagt MarieLies Birchler. Sie könnten immer wieder aufbrechen. Darum habe sie sich mit den Nonnen von damals, und mit der Kirche, nicht versöhnen können.
Sie sei aber durchaus offen für Diskussionen: «Ich kann durchaus mit einem Geistlichen reden. Ich verurteile auch niemanden».
Aufgrund dessen, was ihr von Vertretern der Kirche angetan wurde, wolle sie mit der Institution Kirche aber nichts mehr zu tun haben: «Es war zu verlogen und verschroben.»
Sternstunde Religion zeigt eine gekürzte TV-Fassung des gleichnamigen Kinofilmes.