Wir stehen vor dem «Moment Café» in der Basler Innenstadt. Von der Fassade schaut ein goldener Engel auf uns nieder. Ich bin mit einer Arbeitskollegin gekommen. Wir wollen das Essen im Schweigen ausprobieren.
Wir fragen uns, wie wir wohl hier unsere Bestellung aufgeben. Sollen wir einfach auf die Karte deuten? Aber wie weiss dann die Servierkraft, ob im Cappuccino Hafermilch oder Kuhmilch gewünscht ist? Wir treten ein, lassen uns an einem Tisch nieder und erfahren: Beim Bestellen ist Flüstern erlaubt.
Die meisten Gäste sind allein gekommen. An einem Tisch sitzt ein Paar. Die meisten essen eine Suppe. Der helle Ton der Löffel in den Schalen erinnert mich an ein Windspiel, das friedlich in der Brise schaukelt.
Café zur stillen Einkehr
Ich spüre, wie angespannt ich bin. Doch dann ist es, als nehme mir jemand einen schweren Rucksack ab. Eine Wohltat, dass ich die Gespräche vom Nebentisch, die nicht für meine Ohren gedacht sind, nicht mithören muss. Manchmal spüre ich den Impuls, meiner Kollegin etwas zuzuflüstern, dann lächle ich sie einfach an.
«Rrrrrungs.» Die Tür schwingt auf. Ich zucke zusammen. Das scharrende Geräusch will nicht in diesen behaglich eingerichteten Raum passen. Auch das Fauchen des Milchschäumers wirkt unnatürlich laut und reisst mich für einen Moment aus der Stille.
Thomas Fries ist der Initiant des «Moment Café». Der Architekt kam vor etwa 30 Jahren in Asien mit der Meditation in Berührung und wandte sich dem Zen zu. Er empfand den Wunsch, in der Stadt Basel einen Ort der Stille zu schaffen.
Aus diesem Wunsch entstand das erste Stillecafé in der Schweiz. «Wer schweigend isst, erlebt ein wahres Feuerwerk an Sinneseindrücken», sagt er. «Die Stille führt uns zum Wesentlichen, zu dem, was das Leben ausmacht. Im Aussen wie im Innen.»
Die Stille soll aber nicht gekünstelt wirken. Deshalb dürfen die Alltagsgeräusche hier drin weiter tönen. Es sei eine gute Übung, sich davon nicht ablenken zu lassen.
Vertrautes Schweigen
Jedes Mal, wenn die Tür aufschwingt, kommt ein Schwall Stadt hinein. Pralles Leben, könnte man meinen. Doch seltsamerweise empfinde ich es umgekehrt. Der wortlose Raum fühlt sich lebendiger an als das Treiben der Stadt.
Es wächst etwas in dieser schweigenden, zufällig zusammengewürfelten Essensgemeinschaft. Auch zwischen mir und meiner Arbeitskollegin.
Wir tauschen uns sehr gerne aus, doch zu unser beider Überraschung fehlt uns das Plaudern nicht. Genüsslich kuscheln wir uns ins Schweigen und verkosten zufrieden unser Essen. Als wir schliesslich aufbrechen, nehme ich eine neue Vertrautheit zwischen uns wahr.
Kulinarische Choreografie
«Schweigen verbindet», sagt Priorin Irene vom Kloster Fahr, die uns in ihrem grünen Zimmer empfängt. «Auch Menschen, die sich gar nicht kennen.» Das Kloster bei Zürich ist die nächste Station auf unserer stillen Kulinarik-Reise. Für Priorin Irene ist Essen im Schweigen die Regel. Sie liebt es, zu essen, und ist wie Thomas Fries der Ansicht, Schweigen steigere den Genuss.
Ich darf mit den Schwestern ein Mittagessen im Refektorium des Klosters Fahr einnehmen. Der Ablauf der Mahlzeit mit Suppe, Salat und Hauptgang ist genau festgelegt. So entsteht keine unnötige Unruhe.
Es wirkt auf mich wie eine einstudierte Choreografie, wie ein ritueller Tanz. Das Besondere: Eine Schwester liest während des Essens aus einem Buch vor. Anfangs bedaure ich das, es strengt mich an.
Mit der Zeit gelingt es mir, gleichzeitig zuzuhören und das Essen zu geniessen. Es ist ganz anders als im «Moment Café». Ich bin ein kleiner Teil eines grösseren Ganzen, ein Steinchen im Mosaik, ich nehme teil an einem Ritual. Ich fühle mich leicht und auf eine angenehme Weise unwichtig.
Andere Religion, gleiche Tradition
Das Essen im Kloster Fahr wird von der Silberglocke der Priorin strukturiert. Das ist auch im buddhistischen Meditationszentrum Haus Tao im appenzellischen Wolfhalden der Fall. Hier veranstaltet Dagmar Jauernig Schweige-Retreats.
«Oft essen wir gar nicht das, was wir zubereitet haben oder was uns serviert wird, sondern wir essen unsere Gedanken oder unsere Unruhe», sagt sie. «Wer sich bewusst dem Essen widmet, erlebt Genuss, Dankbarkeit und Glück.»
Spiritueller Speiseplan
Im Buddhismus ist es wichtig, während des Essens den Geist zu betrachten. Womit ist er beschäftigt? Ziel ist, dass der Geist zur Ruhe kommt, dass er in Frieden, zufrieden ist. Wer einen friedvollen Geist hat, geht anders durchs Leben. Es braucht Zeit und Übung, dahin zu gelangen.
Wir sitzen uns gegenüber, auf den Tellern ein Stück Quiche, die verführerisch duftet. Dagmar Jauernig hat sie gebacken, ebenfalls schweigend.
Ich bin hungrig und schlage meine Zähne in das köstliche Gebäck. Ertappe mich dabei, dass ich die Quiche am liebsten hinunterschlingen würde. Ich reisse mich zusammen und kaue genüsslich. Mein Fazit: Bewusstes Essen macht schneller satt.
Während ich Bissen um Bissen koste, stelle ich fest, wie laut ich bin. Ich höre mich kauen und schlucken, meine Eingeweide rumpeln. Das ist mir peinlich.
«Oft wollen wir Dinge anders haben, die gegeben sind, und stemmen uns dagegen», sagt Dagmar Jauernig, als ich ihr nach dem Essen von meinen Gefühlen erzähle. «Wir können aber auch einfach konstatieren, dass wir etwas angenehm oder eben unangenehm empfinden, und es annehmen, wie es ist.»
Delikatesse mit nachhaltigem Abgang
Mein Fazit nach der stillen Kulinarikreise: Ich empfehle das Essen im Schweigen, sei es nun zu zweit, in einer Gruppe oder allein. Einfach einmal ausprobieren. Anfangs mag es sich befremdlich anfühlen.
Doch es bewirkt meiner Erfahrung nach viel. Es steigert die Wertschätzung und den Genuss des Essens. Es macht dankbar. Es nährt aussen und innen und schafft neue Verbindungen zu den Mitmenschen.
Kein Wunder, dass das Essen im Schweigen in die Praxis unterschiedlichster Glaubensrichtungen gehört. Es ist stark und schön.