Zunehmend wird gefordert, die Natur nicht als blosse Ressource, sondern als lebendiges Gegenüber zu betrachten – mit eigenen Rechten. Auch der britische Bestsellerautor Robert Macfarlane plädiert dafür. In seinem neuen Buch reist er von Ecuador über Südindien bis nach Québec und begegnet Flüssen, die er nicht mehr als Landschaftsobjekte, sondern als Wesen erlebt.
SRF: Ihr neues Buch trägt den provokanten Titel «Sind Flüsse Lebewesen?» Ihre Antwort darauf ist «Ja». Ernsthaft?
Robert Macfarlane: In unserer mechanistischen Weltanschauung sind Flüsse blosse Materie, die Leben in sich trägt. Aber Leben lässt sich auch anders denken – nicht als etwas, das in einem Körper wohnt, sondern als etwas, das in Beziehung entsteht. In diesem Sinn sind Flüsse lebendig, weil sie beleben. Sie schenken, erschaffen und verwandeln Leben.
Wie kamen Sie zu dieser Sicht?
Ich bin in einer rationalen, wissenschaftlichen Familie aufgewachsen. Mein Vater war Arzt, meine Mutter Krankenschwester. Doch ich war in meiner Kindheit oft in den Bergen, wo sich die Dinge irrational verhielten. Ich erlebte Aussergewöhnliches: meine Silhouette, projiziert auf eine Nebelschicht in Form eines Phantoms, umgeben von drei Regenbogen aus Licht. Diese Erfahrungen habe ich nie vergessen.
Wir müssen die Vorstellung ablegen, dass nur Menschen Subjekte sind.
Später, als ich mit Flüssen reiste, begann ich zu begreifen, dass sie nicht Dinge sind, sondern Gegenüber. Heute erlebe ich, wie viele Flüsse in meinem Land krank sind – manche darf man weder berühren noch in ihnen schwimmen. Da wird einem klar, dass sie wie Lebewesen sterben können.
Sie sagen, «Lebendigkeit» sei eine Beziehungsfrage. Wie baut man diese auf?
Indem wir verlernen. Wir müssen die Vorstellung ablegen, dass nur Menschen Subjekte sind. Wenn ich schreibe, dann mit Flüssen, nicht über sie. Ich sage «the rivers who, nicht that» – weil sie Teil des Gesprächs sind. Ich konnte dieses Buch nicht in einer Bibliothek schreiben, sondern nur, indem ich in, mit und durch Flüsse dachte. Das Wasser hat mich verändert – wie ein Fluss, der einen Felsen formt.
Gleichzeitig sprechen Sie vom «Zeitalter der Einsamkeit», in dem wir leben.
Ein Begriff des Biologen Edward O. Wilson, er nannte es «Eremozän». Es kommt vom griechischen Wort «eremos», was «einsam» bedeutet: Gemeint ist, dass wir in einer Epoche leben, in der der Mensch sich zunehmend isoliert, was man zum Beispiel am Rückgang der Biodiversität und dem Artensterben sieht.
Wenn ein Unternehmen eine juristische Person sein kann, warum nicht auch ein Fluss?
Wir bringen die Welt um uns zum Schweigen, bis wir nur noch unsere eigenen Stimmen hören. Das ist erschreckend.
Das klingt nach einer grossen Schuld, die wir uns aufladen.
Wir müssen unsere Schuld anerkennen. Wir können nicht zur Beichte gehen und uns selbst freisprechen. Aber es gibt auch Sühne für Schuld. Sie liegt in der Hoffnung und im Handeln. Verzweiflung ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Hoffnung ist eine Disziplin. Ich habe Flüsse gesehen, die nach Jahren der Vergiftung wieder zu leben begannen, sobald man sie liess. Das macht Hoffnung.
Sie sagen nicht nur, dass Flüsse Lebewesen sind, sondern auch, dass ihnen Rechte gebühren. In Ländern wie Ecuador oder Neuseeland wurden Flüsse mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet. Was verändert das?
Zunächst ändert es wenig – aber es verschiebt etwas Grundsätzliches. Tief verwurzelte, anthropozentrische Strukturen geraten in Bewegung. Wenn ein Fluss plötzlich Rechte hat, müssen wir ihm zuhören, müssen Menschen für ihn sprechen. Wenn ein Unternehmen eine juristische Person sein kann, warum nicht auch ein Fluss?
Das Gespräch führte Olivia Röllin.