Blues ist ein Musikgenre. Er beschreibt aber auch ein Lebensgefühl. Für Reto Nägelin, Pfarrer bei der evangelisch-methodistischen Kirche, steht er für die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Um dem Blues Wort und Klang zu geben, veranstaltet Nägelin regelmässig Blues-Gottesdienste.
SRF: Wie haben Sie den Blues für sich und die Kirche entdeckt?
Reto Nägelin: Auf meinem Weg mit Gott habe ich schnell gemerkt, dass Sonntag nicht mein Tag ist, um Anlässe zu besuchen. Am Sonntag will ich mit Gott ausruhen, Pause machen.
Da will ich für den Gottesdienst nicht früh aufstehen müssen oder am Abend noch in die Kirche rennen. Ich dachte, toll wäre ein Afterwork-Gottesdienst, so dass man nach dem Feierabend noch in einen Gottesdienst gehen kann.
Gleichzeitig begann ich, Mundharmonika zu spielen. So kam ich zum Blues und dann hat sich alles irgendwie zusammengefügt. Es hat mich gepackt und nicht mehr losgelassen.
D araus sind Ihre Blues-Gottesdienste entstanden. Was genau ist das?
Mir geht es nicht darum, einfach einen Gottesdienst mit Bluesmusik zu machen. Mir geht es um das Bluesgefühl, die Sehnsucht nach einem besseren Leben.
Zusammen mit den Musikerinnen und Musikern packe ich das in eine Liturgie. Die Einleitung nimmt es auf, die Verkündigung, die Predigt oder die Lieder. So entsteht am Ende ein Guss. Oder, wie ich es nenne, eine Bluesreise.
Erkennen Sie den Blues als Lebensgefühl denn auch in der Bibel?
Man könnte sagen, dass die Psalmen die ersten Bluesstücke sind. Dieses Jammern, Klagen und Seufzen über eine echte Ungerechtigkeit oder ein Leiden, aber immer verbunden mit der Hoffnung, dass sich etwas ändern wird. Das ist für mich typisch Blues.
Können Sie uns ein Beispiel machen?
Der Klassiker ist Psalm 23, wenn es sinngemäss heisst: Auch wenn ich wandere durchs finstere Tal, dein Stecken und dein Stab behüten mich. Es gibt da dieses Düstere, Dunkle. Es ist nicht gut da, wo ich bin.
Aber Gottes Stecken und Stab behüten mich, ich hoffe auf Veränderung und weiss, dass es eine Perspektive gibt. Dieses Muster zieht sich durch viele Psalmen und eben auch durch den Blues.
Welcher Bluessong gefällt Ihnen denn besonders gut?
Den Klassiker «Crossroads» von Robert Johnson mag ich sehr. Das Bild der Wegkreuzung finde ich super, um darüber nachzudenken, für was sich Menschen entscheiden.
Biegen sie links oder rechts ab? Oder theologisch gesprochen: Will ich Mammon, Besitz und Macht, geht es um mein Ego? Oder geht es um Liebe, um die Schätze im Himmel?
Geht es darum, dass ich mich für die Armen einsetze, dass wir miteinander unterwegs sind? Solche Entscheidungen müssen wir immer wieder fällen. Sie sagen viel darüber aus, für was unser Herz brennt.
Dann gibt es natürlich noch die Bluessongs, die sich explizit mit Gott auseinandersetzen. Die gefallen mir besonders gut. Zum Beispiel «Oh Lord Have Mercy on Me» von Robert Ward oder «Blessed be Your Name» von Mississippi John Hurt.
Solche Lieder rufen nach Hilfe, nach echter Unterstützung und Gerechtigkeit. Sie rufen nach einem Leben, wie es sein sollte.
Das Gespräch führte Léa Burger.