Das Staraufgebot von offiziellen und inoffiziellen WM-Songs ist derzeit enorm: Wyclef Jean, Jennifer Lopez, Pitbull, Carlos Santana heissen die grossen Namen, die zwischen den Matches am Fernsehen Brasilien-Flair verbreiten sollen. Künstler aus dem Land selbst singen bei den Songs zwar mit, stehen aber in der zweiten Reihe – oder sie mussten ihre Eigenheiten ablegen.
Für mehr Kolorit als Trommelgewitter und plakative Samba-Laune reicht es nicht. Wer sich hingegen von den Fussballstadien wegbewegt, der stösst bald auf einen Kosmos an Rhythmen und Stilen. Selbst im Mainstream des Brasil-Pop heben sich Künstler mit grosser Individualität hervor – das zeigen die folgenden drei Beispiele.
Maria Gadú: Eine Stimme aus dunklem Honig
Maria Gadú ist die momentan erfolgreichste Sängerin und Songwriterin Brasiliens, zu ihren grossen Fans zählt auch Caetano Veloso, Vater der Música Popular. Die quirlige 27-jährige mit der Kurzhaarfrisur hat eine Stimme aus dunklem Honig. Sie verschmilzt Stile und Generationen in einer eingängigen Klangsprache.
Ihre Songs sind immer sehr melodieverliebt – ganz gleich, ob melancholische Ballade über unerfüllte Liebe, lautmalerische Hymne auf die Schönheit der Welt oder kantiger Funk. Gadú paart afrobrasilianische Rhythmen aus dem Nordosten Brasiliens mit Einflüssen aus internationalem Rock, greift Fado aus Portugal oder auch einen Jacques-Brel-Chanson auf. Und sie wird sozialkritisch, beklagt die Unfähigkeit ihrer Landsleute, die gesellschaftlichen Probleme wirklich anzupacken.
Bossacucanova: Treffen der Generationen
Mit seinem geschmeidigem Brazilectro-Sound feiert das Projekt Bossacucanova aus Rio de Janeiro gerade sein 15-jähriges Bestehen. Das Produzententrio aus Bassist Márcio Menescal, DJ Marcelinho Da Lua und Keyboarder Alexandre Moreira verknüpft die legendäre Epoche der Bossa Nova mit der Ästhetik der Dancefloor-Generation.
Für die Aufnahmen zu ihren CDs laden sie Stars verschiedener Dekaden vors Mikro, so auch auf ihrem aktuellen Werk «Our Kind of Bossa»: Von der reifen Sambadiva Elza Soares über Marcios Vater, die Bossalegende Roberto Menescal, bis zu Maria Rita, der Tochter von Elis Regina, haben sich viele Grössen im Studio versammelt, um ein urbanes Kaleidoskop der Zuckerhut-Metropole zu entwerfen. Partymusik mit hohem Anspruch.
Flavia Coelho: Weltmusik aus dem Exil
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Flavia Coelho steht stellvertretend für die junge Generation von Exilbrasilianern. Erst in Paris, wo sie in Sounds aus aller Welt eintauchte und zugleich das Savoir-vivre an der Seine einsog, erkannte sie die Quellen der Musik ihrer Heimat. Aus all dem formte das Energiebündel mit der frechen Stimme einen bestechenden Mix: Coelho ist genauso beeinflusst von der Musik des brasilianischen Nordostens wie vom Reggae.
Sie versprüht Farben vom Balkan und Afrika, singt im Duett mit dem deutschen Reggaestar Patrice und lässt sich den rhythmischen Unterbau auch mal von Afrobeat-Eminenz Tony Allen gestalten. In ihren Texten nimmt sie kein Blatt vor den Mund: Hemmungslosen Konsum, die Kindergangster der Favelas oder die Hilflosigkeit der Farmer gegenüber der Globalisierung thematisiert sie in ihren frechen Versen.
Brasiliens Pop im Jahre 2014 ist spielerisch, empfindsam, kritisch und weltgewandt. Auch wenn seine vielen Facetten im kommerziellen Trubel der WM wohl leider untergehen werden.