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Brasilien Mané Garrincha: «Freude des Volkes» und tragischer Held

Mané Garrincha war zweifacher Weltmeister und der beste Rechtsaussen, den Brasilien je hatte. Neben Pelé ist er die grosse Figur des brasilianischen Fussballs. Und das trotz seiner enorm krummen Beine und seiner Alkoholsucht. Eine Spurensuche an seinem Geburtsort.

Rios armer Norden. Am Strassenrand die Müllhalden mit den Geiern drauf. Hierher fährt man nur, wenn man muss. Weit weg sind die reichen Viertel des Südens. Copacabana mit seinem Postkartenstrand oder der Zuckerhut und die Christusstatue. Hier im Norden ist die Armut zuhause. Hier ist das richtige Brasilien.

Ein Pfad für Gold und Sklaven

Nach zweieinhalb Stunden Taxifahrt erreiche ich Pau Grande, ein Dorf am Fuss der Berge nördlich von Rio. Das Dorf ist zwar arm, aber frei von Müllhalden und Geiern. Man spürt, dass es hier mal bessere Zeiten gegeben hat. Und tatsächlich: hinter dem Dorf führt der alte Handelspfad vorbei. Hier wurde Gold vom Landesinneren an die Küste transportiert. Und Sklaven von der Küste ins Landesinnere.

Heute hat Pau Grande seine Bedeutung verloren. Gäbe es da nicht den einen Namen, niemand würde mehr hier vorbeikommen. Auch die drei holländischen Fernsehjournalisten nicht, die sich gerade im Klubhaus des hiesigen Fussballklubs einen antrinken. Auch sie sind seinetwegen hier: Mané Garrincha.

Ein extremes O- und ein extremes X-Bein

Mané Garrincha kommt 1933 als Manuel Francisco dos Santos zur Welt. Nicht im Urwald, wie man mancherorts liest, sondern hier in Pau Grande (Garrincha ist ein brasilianischer Urwaldvogel). Er hat von Geburt an zwei unterschiedlich langen Beine. Mit mehreren Operationen kriegt man das hin. Es bleiben aber ein extremes O- und ein extremes X-Bein. Doch mit seinen krummen Beinen verwirrt er jeden Gegner.

Die anderen Jungs auf dem Bolzplatz von Pau Grande haben keine Chance. Ein Scout kommt vorbei und sieht ihn spielen. Ein Probetraining bei Botafogo wird organisiert. Dort spielt er gegen Nilton Santos, damals Brasiliens bester Verteidiger. Nilton Santos sieht alt aus. Nach dem Training beschwört er seinen Trainer, diesen Krummbeinigen zu engagieren. Er wolle nur mit ihm spielen, nie gegen ihn.

Garrincha spielt nun im Maracanã. Die Menschen strömen ins Stadion, nicht um Botafogo zu sehen, sondern wegen Garrincha. Selbst die Anhänger des Gegners applaudieren, wenn er einen Verteidiger vernascht. Man nennt ihn jetzt «Freude des Volkes». Dann folgt der Ruf in die Seleçao. Zusammen mit Nilton Santos, Pelé, Didi und Vava gehört er zum Kern der brasilianischen Mannschaft, die 1958 und 1962 Weltmeister wird.

400 Franken für ein Interview

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Auf dem Dorfplatz von Pau Grande steht eine Frau um die 40. Schaut man ihr ins Gesicht, sieht man Manés Lachen. Sie ist eindeutig seine Tochter. Eine von zwölf in diesem Dorf, anderswo gibt es noch mehr. Sie will 1000 Reais für ein Interview. Das sind 400 Franken.

Menschen kommen dazu. Zum Schluss ein alter Mann mit einem Foto. Darauf er als Jugendlicher, daneben Mané Garrincha. Der alte Mann erzählt Anekdoten aus der gemeinsamen Jugend: wie sie Vögel jagen, wie sie Schwimmen gehen, wie sie Fussball spielen und wie sie saufen gehen. Und er erzählt mir von der Zeit nach Garrinchas Karriere. Wie ihm das Wasser aus den Augen läuft wegen der Leberzirrhose, wie sie zum letzten Mal einen trinken gehen und Mané eine Limo bestellt. Und wie er eine Woche später stirbt.

Drei angetrunkene Fernsehjournalisten

Die drei angetrunkenen holländischen Fernsehjournalisten kommen dazu. Es wird laut. Sie erkennen Garrinchas Tochter, fotografieren sich gegenseitig mit ihr, zahlen die 1000 Reais und rauschen mit ihr ab zum Interview. Der alte Mann mit dem Foto hinterher. Die anderen auch.

Ich fahre stattdessen zum Garrincha-Haus. Dort ist ein kleines Imbisslokal, in dem man Garrinchas Lieblingsessen bekommt. Bohnen mit Reis für zwölf Reais. Ein Allerweltsessen in Südamerika. Die Frau, die die Mahlzeit zubereitet, ist Garrinchas Enkelin. Sie bittet mich, den Hörern von ihrem Imbiss zu erzählen. Sie braucht Kunden, denn sonst kann sie nicht überleben. Und die WM wäre doch eine schöne Gelegenheit.

Ich esse auf und verabschiede mich. Auf Manés Lieblingsgetränk verzichte ich. Es ist ja noch früh. Und der Rückweg in Rios reichen Süden ist noch weit.

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