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Brasilien Samba ist vitale Volkskultur ohne Glitter und Glanz

Bei Samba denken viele an Pailletten, Federn, nackte Haut und wogende Hüften. Doch diese für Touristen und Fernsehen angerichtete Show hat mit ihrer Musik nur am Rande zu tun. Die Samba ist in den Favelas gross geworden, und beherrscht noch heute Brasiliens Lebensgefühl.

Fussball und Samba haben mehr gemeinsam, als man denkt. Samba-Schulen treten wie Fussballclubs gegeneinander an. Sie können eine Liga auf- oder absteigen. Und sie arbeiten genauso das ganze Jahr auf den entscheidenden Moment hin: Vor 90'000 Zuschauern – mehr als in Rios Maracanã-Stadion Platz haben – entscheidet sich, welche Samba-Schule aus dem 90-minütigen Höhepunkt von Rhythmus, Gesang, Tanz und Spektakel als Siegerin hervorgeht.

Nicht die Musik der Villenbesitzer

Blick auf einen reich geschmückten Wagen, daneben eine Tribüne, dahinter eine Bogenskultpur.
Legende: Das Sambódromo, gebaut vor 30 Jahren vom brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer. Keystone

Im Sambódromo, einer 700 Meter langen Piste zwischen Tribünen, stehen sich allerdings nicht nur 11 Spieler gegenüber: Bei den grossen Schulen sind es etwa 5000 Frauen und Männer, Junge und Alte. In allerlei Kostümen zeigen sie auf und neben opulenten Umzugswagen ihre Choreografie. Alle 5000 singen dabei im Gleichklang die extra komponierte Samba. Dann kommt die «bateria» hinzu: 300 grosse und kleine Trommeln, Tamburine und Rasseln lassen die Menschen auf der Tribüne endgültig von ihren Sitzen aufspringen.

Während des ganzen Jahres fliesst viel Schweiss für die Samba. Die Mitgliederinnen und Mitglieder der Schulen treffen sich in grossen Hallen. Sie sägen, bohren, hämmern, pinseln und nähen in tausenden von Arbeitsstunden. Aus einfachen Wagen entstehen rollende Kunstwerke, aus Stoffbahnen üppige Kostüme. Und immer wieder üben sie das Trommeln, die Lieder, den Tanz. Die meisten von ihnen leben in einem Slum an den Hügeln über Rio. Auch wenn heute einige Sambaschulen im bürgerlichen Teil von Rio liegen: Samba ist nicht die Musik der Villenbesitzer, es ist die Musik der Favelas.

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Samba wurde zu Gold

Heute Brasiliens kulturelles Wahrzeichen, war die Samba allerdings noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verboten. Die Rhythmen und Tänze der Sklaven waren der weissen Oberschicht zu afrikanisch, zu wenig zivilisiert. Ohne offizielle Genehmigung durfte niemand Samba spielen oder zur Karnevalszeit auf der Strasse marschieren. Viele Schwarze wurden festgenommen, eingeschüchtert, gefoltert. Die Samba entfaltete sich im Verborgenen.

1937 erkannte das Bürgertum, dass sich aus Samba Gold machen lässt. Man hob das Verbot auf, die Vermarktung begann. Nicht die Erfinder des neuen Musikstils profitierten, sondern schlaue Käufer der Urheberrechte, Fernseh- und Radiostationen und die Tourismusindustrie.

Das afrikanische Erbe in Erinnerung behalten

Für die Menschen der Armenviertel erfüllen die Sambaschulen noch heute eine soziale Funktion. Oft bilden sie das Zentrum der Gemeinde. Einige führen Förderschulen und Kinderhorte oder bieten medizinische Hilfe. Und im Karneval ist alles möglich – auch, dass eine Wäscherin für eine Nacht zur Sambakönigin gekürt wird oder ein Arbeitsloser zum «maestro de bateria», zum Dirigenten der Perkussion aufsteigt.

Einer, der das afrikanische Erbe im Samba immer wieder betont, ist der Sänger und Komponist Martinho da Vila. Auch er wuchs in einem Aussenquartier Rios auf. Als er der Sambaschule Vila Isabel im gleichnamigen Stadtteil beitrat, änderte er seinen Namen, derart identifizierte er sich mit der Schule. Immer wieder komponierte er für den jährlich stattfindenden Wettbewerb. In seinem Programm von 1988, genau 100 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei, machte er die Sklaverei und den Rassismus zum Thema. Vila Isabel gewann.

Überwältigende Emotionen

Martinho da Vila und die Schule Vila Isabel sind Thema im neuen Film «O Samba» von Georges Gachot, den SRF in einer kurzen Fassung zeigt. Obwohl sich der Regisseur seit Jahren mit brasilianischer Musik beschäftigt, machte er lange einen Bogen um die Samba – zu verankert war das Klischee auch bei ihm. Bis er eine CD mit Martinho da Vila bekam. Georges Gachot: «Diese Stimme zeigte mir plötzlich ungeahnte Facetten. Samba ist eine faszinierende Mischung aus Rhythmus, Poesie und Harmonien.»

Und noch heute sei er überwältigt von der Dynamik, wenn die riesige Perkussionsgruppe am Karneval spiele. Völlig synchron notabene, obwohl die Rhythmen nicht notiert seien. Georges Gachot: «Da habe ich erlebt, wie die Menschen auf der Strasse ob dieser Musik zu weinen und zittern beginnen. Als ich diese Emotionen spürte, habe ich verstanden, was die Samba den Brasilianerinnen und Brasilianern bedeutet.»

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