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Brasilien Favelas im Wandel – die Armen müssen weichen

Immer mehr Bars, Läden und Satellitenschüsseln: Das Leben in den Favelas von Rio de Janeiro ist im Wandel. Während sich die Lebensbedingungen verbessert haben, zeigt sich auch die Kehrseite des Umbruchs. Immobilienspekulanten treiben die Mieten in die Höhe, Armut wird verdrängt. Ein Rundgang.

Das Leben in den mehreren hundert Favelas befindet sich im Wandel. Und das, seit ein neues Sicherheitskonzept die einstigen Elendsviertel mittels permanenter Polizeipräsenz befrieden soll: die Dauerwache der «Unidade de Policia Pacaficadora» (UPP) als Instrument der Behörden gegen die Parallelwirtschaft der Drogenmafia.

Die neue Sicherheit trügt

Tänzer und Theatermacher Marcio Januairo führt mich durch Vidigal, jene Favela, in der er seit zehn Jahren zu Hause ist. Früher wurde das Leben hier von schwer bewaffneten Gangs kontrolliert. Es herrschten eigene Gesetze, eine eigene Ordnung. Marcio Januairo arbeitet seit Jahren mit Jugendlichen – holt sie von der Strasse auf die Theaterbühne. In seinen Projekten werden nicht nur Shakespeare-Stücke erarbeitet, sondern auch die aktuellen Probleme im Quartier thematisiert.

Video
Theater in der Favela
Aus Kultur Extras vom 02.01.2014.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 39 Sekunden.

Auch wenn es paradox klinge, habe er sich im Alltag in mancherlei Hinsicht früher sicherer gefühlt als in der aktuellen Situation, erzählt Januairo. Jetzt, wo die Friedenseinheit in Vidigal das Zepter übernommen habe, müsse er zum ersten Mal in seinem Leben die Wohnungstür verriegeln, wenn er das Haus verlasse. «Um Dieben vorzubeugen», erklärt Marcio Januairo. Ausserdem habe die Gewalt gegen Frauen deutlich zugenommen.

Aufstieg zur konsumierenden Schicht

Zwar hat die UPP mittlerweile in mehr als hundert Favelas die herrschenden Drogenbanden vertrieben, dennoch ist Misstrauen verbreitet. Geschichten über die Gewaltherrschaft neuer Milizen und über Folterskandale der Polizei machen die Runde.

Zur Autorin:

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Legende: SRF

Nina Mavis Brunner ist Moderatorin der Sendung «Kulturplatz».

Auch finanziell hat sich in den letzten Jahren vieles verändert in den Favelas von Rio. Auf der Suche nach einem besseren Leben hatte die Armut einst Hunderttausende in die Slums der Grossstadt getrieben. Dank dem rasanten Wirtschaftswachstum Brasiliens gehört ein Grossteil der Bewohner Vidigals nun zur konsumierenden Schicht.

Während mir Marcio von den veränderten Lebensbedingungen erzählt, passieren wir Nagelstudios, Friseurgeschäfte, kleine Läden und Bars. Mein Blick wandert über unzählige Satellitenschüsseln, Klimaanlagen und abenteuerlich installierte Stromkabel. Aus einigen Häusern dringt Musik, hie und da flimmert uns auf einem Fernsehgerät eine Telenovela entgegen.

Spekulation und ein neues Luxushotel

Die Gentrifizierung rankt merklich durch die noch improvisierten Gassen. Im Vordergrund steht nicht eine von der Stadtplanung schrittweise Sanierung der Armutsquartiere, sondern schneller Investitionsprofit.

Der Einsatz der UPP soll den den Bewohnern einerseits Sicherheit und Stabilität bringen. Andererseits lockt genau dieser Umstand Immobilienspekulanten an, welche wiederum die Mietpreise in die Höhe treiben. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich der Wert von Marcio Januairos Haus verzwölffacht.

An jeder Ecke wird betoniert, gebaggert und gehämmert. Ein beeindruckendes Beispiel ist das sich im Rohbau befindende angehende Luxushotel, an welchem wir vorbeispazieren. Schnell wird klar, weshalb sich ein derartiges Resort hier lohnen dürfte: Die grandiose Aussicht auf Stadt, Zuckerhut und Meer verschlägt mir für einen Moment die Sprache.

Die Armen werden verdängt

Vermehrt kommen Touristen und Einheimische aus den reicheren Vierteln hierher, um ebendiesen Panoramablick zu geniessen. Modeshootings, Partys, Restaurants, ein Surferhostel – «Favela chic» ist angesagt.

Doch wenn nun die aufkeimende neue Mittelschicht diese Quartiere belebt, wo bleiben die Armgebliebenen, die Drogensüchtigen, die Strassenkinder? «Sie werden weit hinter die Stadt gedrängt. Man kann sie von hier nicht sehen», sagt Marcio und blickt schweigend übers Meer.

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