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Die Nazi-Vergangenheit meiner Grossmutter
Aus Kontext vom 22.10.2021. Bild: smartprojects
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Buch «Gnadenlos geirrt» «Meine Grossmutter war Nationalsozialistin»

Grosses Schweigen herrscht bis heute in manchen Familien, wenn es darum geht, über die nationalsozialistische Vergangenheit der Grosseltern-Generation zu sprechen. Die Historikerin Barbara Bonhage hat mit ihrem Buch «Gnadenlos geirrt» das Schweigen gebrochen. Darin rekonstruiert sie mithilfe alter Briefe die Biografie ihrer Grossmutter während der Hitlerdiktatur.

Barbara Bonhage

Barbara Bonhage

Historikerin und Autorin

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Barbara Bonhage ist ursprünglich Historikerin und arbeitet heute als Beraterin und Expertin für Bildungsmanagement und Public Management und zudem als Hochschuldozentin. Zwischen 1998 und 2001 arbeitete sie in der Bergier-Kommission mit und war Co-Autorin des Schulbuchs «Hinschauen und Nachfragen», das 2006 erschienen ist.

SRF: Sie haben sich bereits 2001 in der Bergier-Kommission mit dem Nationalsozialismus befasst. Erst vor ein paar Jahren kamen Sie nach dem Tod eines Onkels in den Besitz von 1000 Briefen Ihrer Grossmutter und Urgrossmutter. Ein überraschender Fund?

Barbara Bonhage: Ja. Ich konnte manchmal gar nicht glauben, was ich da las. Vorher wusste ich nur, dass meine Grossmutter Hilde an Tuberkulose gestorben war und mit dem Nationalsozialismus sympathisiert hatte.

Nun las ich, dass sie die antisemitische Ideologie auch tatkräftig vertrat. An ihre Schwester schrieb sie 1933, dass sie zu einer Nachbarin stolz gesagt habe: «Nun habt ihr die Judenbrut endgültig ausgeräuchert.»

schwarzweiss Foto Frau sitzt in Blumenkleid auf Rasen, im Hintergrund Pflanzen und ein Haus.
Legende: Hilde Bonhage im grossen Garten ihres Dortmunder Elternhauses (etwa 1931). Privatbesitz Barbara Bonhage

Durch die Briefe wurden Sie als Historikerin mit der Nazi-Vergangenheit Ihrer Grossmutter konfrontiert. Wie reagierten Sie darauf?

Zuerst fragte ich mich, warum mir das bisher niemand erzählt hatte. Ich wusste nicht, dass meine Grossmutter in der NSDAP war und in deren Frauenorganisation Karriere machte. Auch nicht, dass sie 1941 mit ihrer Familie nach Posen in ein Haus zog, dessen Besitzer wahrscheinlich enteignet worden war.

Ich erfuhr, dass sie eine treibende Kraft der Nazi-Siedlungspolitik im besetzten Polen war. Die von der Nazi-Doktrin verlangte Ausgrenzung von Menschen betrieb sie aktiv und integrierte dies vollständig in ihr Denken und Handeln, ohne die Gewalt explizit zu benennen, die damit verbunden war.

schwarzweiss Foto Hochzeitsgäste, Frau in weissem Kleid und Schleier, rechts Mann im Wrack und gegelten Haaren
Legende: Das Hochzeitspaar Hilde und Andreas Bonhage am 12. Juli 1930. Privatbesitz Barbara Bonhage

Zum Beispiel?

Als Leiterin der NS-Kreisfrauenschaft in Posen organisierte sie für das Winterhilfswerk Wollsachen und Pelze für die Soldaten an der Ostfront. Hilde berichtete in einem Brief von einem ansehnlichen Sammelergebnis, verschwieg aber, dass viele dieser Kleider vertriebenen Menschen weggenommen worden waren.

Sie schrieb über diese Kleidersammlung ebenso wie über das Stillen ihres Kindes und ihre Haushaltsführung. Sie schilderte auch, wie sie vor lauter «Hauskrämchen», wie sie es nannte, keine Zeit hatte, ein kluges Buch zu lesen.

schwarzweiss Foto, rechts Frau im Rock, links Mann in Uniform, 6 kleine Kinder.
Legende: Hilde Bonhage mit allen sechs Kindern und Ehemann Andreas im Garten in Posen (etwa Oktober 1943). Privatbesitz Barbara Bonhage

Ein Stück weit konnte ich mich mit ihrem Frauenleben identifizieren. Die wissenschaftliche Distanz ist dadurch erodiert. Ich musste mich fragen, ob ich es damals eigentlich besser gemacht hätte als sie.

Bleibt das noch heute eine Frage?

Auf jeden Fall. Ich hoffe, dass ich selbst nicht so kalt gegenüber dem angerichteten Leid gewesen wäre. Zum Beispiel in der Reichspogromnacht im November 1938: Da lagen Schaufenster in Trümmern, da waren ausgeräumte Geschäfte, und da sah man Juden, welche die Scherbenhaufen zusammenkehren mussten.

Hilde freute sich, dass ihr ordentliches Deutschland, wie sie dem sagte, alles so schnell und gründlich wieder aufräumen liess. Angesichts solcher Szenen hoffe ich, dass ich darauf anders reagiert hätte.

Das Leben von Hilde Bonhage

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1907 kommt Hilde in London zur Welt.

1914-1918 Erster Weltkrieg: Ihre Familie wird aus Grossbritannien ausgewiesen.

1919 kehrt sie nach Deutschland zurück und lässt sich in Dortmund nieder.

1927 studiert Hilde ein Semester Medizin.

1930 heiratet sie einen angehenden Juristen, Andreas Bonhage.

1932 bringt Hilde ihr erstes Kind zur Welt.

1933 wird Hitler Reichskanzler (30. Januar).

1933 brennt der Reichstag in Berlin (27./28. Februar).

1933 tritt Hilde Bonhage der NS-Frauenschaft bei (Mai).

1934 bekommt sie das zweite Kind.

1936 folgt ihr drittes Kind.

1937 tritt Hilde Bonhage in die NSDAP ein.

1938 bringt sie ihr viertes Kind zur Welt.

1939 absolviert sie die Führerinnenausbildung in Hattingen.

1939 überfällt die Wehrmacht Polen, der 2. Weltkrieg beginnt (1. September).

1940 folgt das fünfte Kind.

1941 zieht sie nach Posen, wird Kreisleiterin der NS-Frauenschaft und bekommt ihr sechstes Kind.

1941 überfällt die Wehrmacht die Sowjetunion.

1942 wird bei Hilde Tuberkulose diagnostiziert.

1945 flüchtet sie vor der Roten Armee nach Westen in den Schwarzwald (Februar).

1945 kapituliert Deutschland (8. Mai).

1945 stirbt Hilde Bonhage im Schwarzwald (Dezember).

Sie sagen, die wissenschaftliche Distanz sei erodiert, andererseits enthält der Titel Ihres Buches «Gnadenlos geirrt» eine Bewertung durch die Historikerin – ein Widerspruch?

Als Frau kann ich die Alltagssorgen meiner Grossmutter nachvollziehen, etwa wenn es um die Erziehung der sechs Kinder ging. Doch bei allem Einfühlungsvermögen muss ich sagen: Ja, sie hat sich geirrt, und sie gehörte zu den Täterinnen.

Die Schuld, die sie auf sich geladen hat, lässt sich nicht beschönigen. Zudem scheint es mir aus heutiger Sicht wichtig, Position zu beziehen.

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Wie kamen Sie zum Entschluss, diese belastete Familiengeschichte öffentlich zu machen?

Das hat mir auch Angst gemacht: Ich gebe eine Familiengeschichte preis, über die jahrzehntelang geschwiegen wurde. Niemand in der Verwandtschaft sprach darüber. Ich musste für mich klären, ob ich das veröffentlichen darf.

Ich habe mich für die Publikation entschieden, weil ich nicht so weiter schweigen wollte, wie man unter Nazis schon geschwiegen hatte. In diese Tradition wollte ich mich nicht stellen. Diese Geschichte zu erzählen, war befreiend. Es bedeutet auch, dass ich mich mit der belasteten Vergangenheit meiner Vorfahren nicht mehr verstecken muss.

Das Gespräch führte Sabine Bitter.

Buchhinweis

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Barbara Bonhage: «Gnadenlos geirrt. Die Geschichte meiner Grossmutter 1907 – 1945». Selbstverlag tredition, 2021.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 22.10.2021, 09:03 Uhr

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