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Buch über Epochenbruch War 1977 die Geburtsstunde unserer Gegenwart?

Verlust an Selbstverständlichkeiten: Der Historiker Philipp Sarasin verschreibt sich in seinem neuen Buch einem Schlüsseljahr der Geschichte.

Auch das Verlagsgeschäft hat seine Moden. Seit dem Megaseller «1913» von Florian Illies werden immer wieder Bücher geschrieben, denen es darum geht, die Stimmung eines Jahres einzufangen und dieses als Schlüsselmoment zu porträtieren.

Fundamentale Verschiebungen

Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin hat das nun für das Jahr 1977 getan. Das ist erklärungsbedürftig. Denn als Epochenumbruch, wie 1945 das Ende des Zweiten Weltkriegs oder der Fall der Mauer 1989, kann das Jahr kaum gelten. Sarasin weiss das selbstverständlich. Für ihn bündeln sich 1977 fundamentale Verschiebungen.   

In fünf Kapiteln versucht Sarasin, diesen grundlegenden Veränderungen auf die Spur zu kommen. Er schaut auf die Entfesselung der Märkte und die Medienrevolution, auf Individualisierung und Identitätspolitik.

Buchhinweis

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Philipp Sarasin: «1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart». Suhrkamp Verlag, 2021.

Ältere Denkmuster

Jedem Kapitel vorgeschaltet ist ein Nekrolog eines 1977 Gestorbenen. Die biografischen Skizzen zeigen etwa den marxistischen Philosophen Ernst Bloch oder Anaïs Nin, die Schriftstellerin der sexuellen Befreiung. Sie erzählen von älteren Erfahrungen und Denkmustern und lassen so gravierende Brüche sichtbar werden.

Die Beschäftigung mit dem Jahr 1977 dient dabei keineswegs allein einem antiquarischen Interesse. Für Sarasin geht es vielmehr darum, «einige Phänomene und Probleme zu identifizieren, die uns heute ganz offenkundig beschäftigen».

Vom Allgemeinen zum Individuellen

Während sich moderne Gesellschaften am Allgemeinen orientierten, wird in der Postmoderne das Besondere und Individuelle betont, schreibt Sarasin und knüpft damit an Überlegungen des Soziologen Andreas Reckwitz und dessen Bestseller «Die Gesellschaft der Singularitäten» an. Dieser folgenreiche Wandel steht im Zentrum von Philipp Sarasins lesenswertem Werk.

Der Zürcher Historiker folgt einer Entwicklungslinie vom Kampf für Menschenrechte und dem Aufkommen des Feminismus zu immer radikaleren und zunehmend problematischeren Debatten um Identitäten.

Während sich Gesellschaften früher auf bestimmte Grundüberzeugungen einigen konnten, drehe sich mittlerweile jeder nur um sich selbst, kritisiert Sarasin. Andererseits aber hätten heute – anders als früher – unterschiedliche Lebensentwürfe nebeneinander Platz.

Vorgeschichten

Philipp Sarasin hat bei seinem «Schnitt durch den Strom der Zeit» streng darauf geachtet, keine Ereignisse nach dem 31. Dezember 1977 in seine Argumentation mit einzubeziehen. Wohl aber schaut er immer wieder auf die Vorgeschichte und Vorgeschichten des Jahres 1977 zurück.

Die selbst auferlegte Beschränkung auf ein einziges Jahr wird also nicht durchgehalten. Schlimm ist das nicht, ganz im Gegenteil: Erst so wird deutlich, dass sich Entwicklungen in der Regel eher prozesshaft als sprunghaft vollziehen. Zum besseren Verständnis unserer Gegenwart kann Sarasins präziser Rückblick allemal beitragen.  

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 6.7.2021, 7:52 Uhr

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