Zum Inhalt springen

Buch zum Gender Data Gap Warum Frauen sich im Büro warm anziehen müssen

Die Welt ist für Männer gemacht, schreibt Caroline Criado-Perez im Buch «Unsichtbare Frauen». Ein Manifest voller Aha-Momente, das es nun auch auf Deutsch zu lesen gibt.

«Aha!», denkt man oft, wenn man «Unsichtbare Frauen» der britischen Journalistin Caroline Criado-Perez liest.

Warum sitzen Frauen häufig mit einem extra dicken Pulli im Büro? Weil die gängige Formel für die Raumtemperatur optimal ist für einen Mann in seinen 40ern, erklärt Criado-Perez im Buch «Unsichtbare Frauen». Für Frauen, die einen langsameren Stoffwechsel haben, ist es oft zu kalt. Aha!

Wieso warten Frauen vor der Toilette meist länger als Männer? Oft werden Klos mit gleicher Fläche geplant, obwohl mehr Pissoirs als Kabinen in den Raum passen. Frauen bräuchten aber nicht nur gleich viel, sondern sogar mehr Klos: Weil sie meist länger brauchen – etwa mit Strümpfen oder komplizierten Reissverschlüssen hadern, manchmal ihre Tage haben oder öfters Kinder begleiten. Gerechnet wird bei der Anzahl Klos dennoch mit dem Sitzverhalten der Männer. Ach so? Ach so!

Weshalb muss ich mich vor Supermarktregalen so oft auf die Zehenspitzen stellen? Weil die Höhe sich an einem durchschnittlich grossen Mann ausrichtet. Ah ja? Oh je.

Gestatten: der Gender Data Gap

Schuld ist der Gender Data Gap, schreibt Criado-Perez. Wenn neue Dinge entwickelt werden, dann wird von gewissen Durchschnittsdaten ausgegangen. Das sind in der Regel die der Männer. Weibliche Bedürfnisse werden entweder vergessen, nicht erforscht oder ignoriert.

Porträ einer lachenden Frau.
Legende: Sorgt für viele Aha-Momente: Autorin und Aktivistin Caroline Criado-Perez. Rachel Louise Brwon

Die Autorin erklärt das damit, dass kulturell der Mann als Prototyp des Menschen gesehen wird und die Frau als Abweichung vom Normalfall. Es sei also keine böse Absicht, sondern Zeichen einer uralten Verzerrung in unseren Köpfen, dass die Hälfte der Bevölkerung wie eine zu vernächlässigende Minderheit behandelt werde.

Dieser Gender Data Gap – so zeigt Criado-Perez an unzähligen Beispielen – beeinflusst, wie unsere Alltagswelt und Arbeitsleben aussehen. Er bestimmt, wie Produkte designt und Politik gemacht wird, aber auch wie gefährlich wir leben oder wie gut wir behandelt werden, wenn wir krank sind.

Die Folgen sind ärgerlich bis tödlich

Nicht alle Folgen sind demnach so harmlos wie die zuvor genannten. Manche sind einschneidend: Wenn 5-mal häufiger zu Erektionsstörungen als zu PMS geforscht wird. Wenn das Renten- und Lohnsystem männliche Lebensläufe als Standard setzt und abstraft, wer sich um Kinder kümmert oder Care Arbeit leistet.

Teilweise sind sie gefährlich oder potenziell tödlich: Etwa wenn Medikamente nur an männlichen Probanden getestet werden oder «vergessen wird», wie sich die Wirksamkeit durch den weiblichen Zyklus verändert.

Wenn bei Crashtests für Autos die Dummies so gross und schwer sind wie ein Mann, und sich Frauen in der Folge bei Unfällen öfter verletzen. Wenn Polizistinnen von unpassenden Uniformen kaum geschützt werden. Oder wenn die Schulmedizin bei einem Herzinfakt von den Symptomen ausgeht, die Männer zeigen – und Frauen oft eine falsche Diagnose kriegen.

Ein Rundum-Schlag

Die Liste liesse sich weiterführen. Caroline Criado-Perez Buch ist ein Rundum-Schlag, unterfüttert mit vielen Fakten und Studien: auf knapp 500 Seiten kommen über 1330 Fussnoten. Das ist beeindruckend.

An einigen Stellen beschleicht einen aber auch das Gefühl, dass es unfreiwillig Stereotype reproduziert. Zwei Hände zum Tippen auf dem Smartphone nehmen zu müssen: Welche Frau kennt das nicht? Aber liegt das nun wirklich daran, dass die Entwickler das Gerät für grosse Männerhände gebaut haben - oder daran, dass wir einen möglichst grossen Bildschirm wollen?

Buchhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Caroline Criado-Perez: «Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert», btb 2020.

Die Autorin will in erster Linie aufrütteln – und ein systematisches Problem insgesamt sichtbar machen. «Entscheidend ist das Muster», schreibt sie am Anfang. Und appeliert am Ende: Ist es (an-)erkannt, kann man es angehen, etwa indem man Frauen in Entscheidungspositionen fördert.

Dazwischen macht das Buch mit Anektoden und Alltäglichem den abstrakten Gap greifbar, lässt die Leserin schmunzeln – und die Stirn runzeln.

Der Data Gender Gap und die Forschung: 3 Fragen an eine Ökonomin

Box aufklappen Box zuklappen
Legende: UZH

Ursina Schaede forscht am volkswirtschaftlichen Institut der Universität Zürich zu Arbeitsmarkt-Beteiligung von Frauen.

SRF: Wie hängt der Gender Data Gap mit der Art und Weise zusammen, wie wir Daten erheben?

Ursina Schaede: Ein klassisches Beispiel sind die Medikamententests. Wenn eine Pharmafirma ein Medikament testet, ist sie daran interessiert, dessen Effekt zu isolieren und verabreicht einer Kontrollgruppe ein Placebo.

Für die statistische Präzision ist es wichtig, dass die zwei Vergleichsgruppen sich sehr ähnlich sind. Je diverser man sie macht, desto grösser muss die Stichprobe sein, um die Resultate signifikant messen zu können. Das ist natürlich mit höheren Kosten verbunden und wird deswegen ungern gemacht.

Dank Big Data können wir immer mehr Daten verarbeiten. Kann das helfen?

Ja. Wenn wir mehr Daten haben, können wir auch Gruppen, die traditionell eher marginalisiert sind, besser erforschen und ihnen besser gerecht werden.

Aber Forschenden müssen auch die Kreativität aufbringen, sich bestimmte Sachen anzuschauen. Vielleicht braucht es da eine Frau wie Caroline Criado-Perez, um erst einmal festzustellen, was es überhaupt für Unterschiede gibt.

Was denken Sie zu deren Vorschlag, mehr Frauen in Entscheidungsprozesse einzubeziehen?

Diverse Teams sind sicher hilfreich. Ich kann mir gut vorstellen, dass wenn mehr Frauen in der Forschung tätig sind, mehr Produkte für sie entwickelt werden. Aber es geht nicht nur um mehr Frauen, sondern um Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen. Zum Beispiel können auch ältere Menschen, die Produkte, die von jungen Menschen entwickelt worden sind, oft schwierig handhaben.

Und bei allem berechtigten Fokus auf die Unterschieden ist es auch wichtig, die Gemeinsamkeiten nicht zu vergessen. Auch viele Männer kommen zu kurz, wenn man mit dem Durchschnittsmann rechnet.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 2.3.20, 17:10 Uhr

Meistgelesene Artikel