Es ist ein schöner Spätsommertag, als Nikita Chruschtschow im September 1959 mit einer knappen Stunde Verspätung auf einem Militärflughafen ausserhalb Washingtons landet. Kameras aus der ganzen Welt beobachten, wie Chruschtschow aus dem Flugzeug steigt. Die Spitzen der amerikanischen Politik stehen bereit.
Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wird ein sowjetischer Staatschef beim politischen Erzfeind zu einem offiziellen Staatsbesuch empfangen.
Es ist ein Empfang mit höchsten Ehren. Damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit: Ende der 1950er-Jahre streiten sich die USA und die Sowjetunion um die globale Vormachtstellung. Die Stimmung in den USA ist stark antikommunistisch.
Beim nachfolgenden Besuch im Weissen Haus übergibt Chruschtschow Eisenhower eine kleine Eisenkugel als Geschenk. Es ist nicht irgendeine Kugel, sondern eine Kopie jener Kugel, die nur Tage zuvor von den Sowjets beim ersten Flug einer Raumsonde zum Mond dort gelassen wurde. Das Geschenk ist ein Symbol für die damalige Stärke der Sowjetunion im Weltraumrennen.
Chruschtschows «Wettbewerb der Systeme»
Nicht nur technisch, auch gesellschaftlich ist die Sowjetunion damals auf dem Vormarsch. Nach seiner Machtübernahme stösst Chruschtschow eine Reihe innenpolitischer und wirtschaftlicher Reformen an, die zu Beginn durchaus Erfolg haben.
Er bricht offen mit seinem Vorgänger Josef Stalin, dem er seinen Aufstieg zur Macht zu verdanken hat. Die Reformen gehen allerdings nur so weit, dass sie das System als Ganzes nicht gefährden.
Aussenpolitisch erfindet Chruschtschow den Begriff der «friedlichen Koexistenz» gegenüber dem Westen. Damit ist eine Fokusverschiebung gemeint – von der rein militärischen Auseinandersetzung hin zu einem Wettbewerb der Systeme auf allen Ebenen.
Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt dabei die Wirtschaft. Chruschtschow ist überzeugt: Gelingt es der Sowjetunion, den Lebensstandard zu verbessern, ist ein Sieg des Kommunismus über den Kapitalismus nur eine Frage der Zeit.
Ein neues Gesicht für die Sowjets
Zum Zeitpunkt von Chruschtschows Besuch herrscht ein unglaublicher Optimismus auf sowjetischer Seite. «Damals waren nicht nur ideologisch verblendete Sowjetbürger, sondern breite Teile der Bevölkerung überzeugt, dass die Sowjetunion als Sieger aus dem Duell der Systeme hervorgehen wird», meint Michel Abesser. Der Osteuropa-Historiker forscht an der Universität Freiburg.
Mit diesem Optimismus im Gepäck will Chruschtschow der amerikanischen Öffentlichkeit ein neues Bild des Kommunismus präsentieren. Dem medialen Schreckgespenst soll ein menschliches Gesicht verliehen werden – sein Gesicht.
Die Reformen werden auch auf westlicher Seite registriert. Zum Zeitpunkt der Reise ist man sich aber noch nicht sicher, was von Chruschtschow zu halten ist. Trotzdem ist man damals bereit, sich auf den neuen starken Mann im Kreml einzulassen. «Im Vorfeld der Reise sind beide Seiten offen, die Beziehungen zueinander neu zu denken», sagt Michel Abesser.
Reise quer durch die USA
Nach dem Besuch im Weissen Haus reist die Delegation im Zug nach New York. Auch dort säumen zehntausende Menschen den Strassenrand, um einen Blick auf den kommunistischen Führer werfen zu können.
Chruschtschow selbst zeigt sich von Manhattan wenig beeindruckt: «Hast du einen Wolkenkratzer gesehen, hast du alle gesehen», lautet sein Kommentar zum Empire State Building, dem damals höchsten Gebäude der Welt.
Weiter geht die Reise nach Los Angeles. Dort wird Chruschtschow von der versammelten Prominenz Hollywoods zum Essen empfangen. Elizabeth Taylor ist gekommen, genauso wie Marilyn Monroe und Kirk Douglas.
Begrüsst wird der sowjetische Staatschef von Spyros Skouras, dem Chef des Filmstudios 20th Century Fox. In seiner Tischrede beschreibt Skouras seinen Aufstieg vom griechischen Einwanderer zum Studioboss. Eine Karriere, wie sie nur im amerikanischen System möglich sei.
Chruschtschow reagiert umgehend: «Ich habe in Fabriken und Chemiewerken zu arbeiten begonnen, kaum dass ich 15 war. Und nun bin ich Ministerpräsident der Sowjetunion.» Grinsend blickt Chruschtschow ins Publikum, das seinen verbalen Konter mit Applaus quittiert. Trotz gegenseitiger Provokationen bleibt die Stimmung ausgelassen.
Weisses Haus mahnt zu Respekt
Das ist nicht immer so. Manchmal lässt sich Chruschtschow provozieren und verliert die Fassung. Während eines Essens mit dem Bürgermeister von Los Angeles droht er gar unverhohlen mit Krieg.
Das Weisse Haus interveniert und bittet alle Beteiligten, Chruschtschow mit Respekt zu begegnen. Nichts solle die anstehenden Gespräche mit Präsident Eisenhower stören.
Die Gespräche zwischen Dwight D. Eisenhower und Nikita Chruschtschow bilden den Abschluss der Reise. Drei Tage lang sprechen die zwei mächtigsten Menschen der Welt über verschiedene Themen wie die Abrüstung oder die Wirtschaftsbeziehungen der beiden Länder. Zu einer nennenswerten Übereinkunft kommt es nicht.
Das Verständnis wächst
Der Besuch sei daher kein Wendepunkt, meint Historiker Michel Abesser. Allerdings habe er zu einer Normalisierung der Beziehungen der beiden Länder geführt. Auf beiden Seiten wächst durch den Besuch das Verständnis. Es kommt ein Austausch in Gange, der bis zum Ende des Kalten Krieges anhält.
Chruschtschow selbst fühlt sich durch die Reise in seinen Reformprojekten bestärkt. Ihm wird zwar der wirtschaftliche Rückstand seines Landes bewusst, doch er ist sich sicher, dass dieser durch die Reformen überwunden werden kann. Während einige seiner Reformen, etwa im Wohnungsbau, erfolgreich sind, scheitern andere.
Als Weichling verschrien
Am Ende bleibt von der Reise – wie von Chruschtschows gesamter Amtszeit – ein gespaltenes Bild. Zwar wird die Reise zur damaligen Zeit auf beiden Seiten als Erfolg gesehen. Doch nur drei Jahre später steht die Welt in der Kubakrise vor einem Atomkrieg.
Im heutigen Russland findet die Ära Chruschtschow nur wenig Beachtung und wenn, dann ist sie tendenziell negativ konnotiert, meint Michel Abesser. Während Stalin nach wie vor für einen starken Staat steht und für seinen Sieg im Zweiten Weltkrieg gefeiert wird, wird Chruschtschow in der russischen Geschichtsschreibung eine zu weiche Haltung gegenüber dem Westen vorgeworfen.
Der Umgang mit Chruschtschow nach dessen Absetzung im Jahr 1964 zeigt jedoch, wie nachhaltig dieser zumindest die Sowjetunion verändert hat: Statt wie zu Stalins Zeiten auf Lebzeiten verbannt zu werden, kann er seinen Ruhestand bis zu seinem Tod 1971 ungestört in seiner Wohnung und auf seiner Datscha verbringen.