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Corona-Demo in Berlin «Die Aggressivität wird hinter einigen Peace-Fahnen versteckt»

Proteste gegen die Corona-Massnahmen nehmen in Deutschland zu: Rund 20'000 Menschen demonstrierten am Wochenende in Berlin. Auf Bildern der Demonstration ist zu sehen, wie Neonazis Schulter an Schulter mit Menschen marschieren, die Peace-Fahnen hochhalten.

Der Soziologe Peter Ullrich erforscht Protestbewegungen. Er glaubt, dass die politischen Ansichten der Demonstrierenden gar nicht so weit voneinander entfernt sind.

Peter Ullrich

Soziologe

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Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Peter Ullrich ist an der Technischen Universität Berlin Ko-Leiter des Bereichs «Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte». Er arbeitet dort zudem am Zentrum für Antisemitismusforschung sowie am Institut für Protest- und Bewegungsforschung. Einer seiner Forschungsschwerpunkte sind Soziale Bewegungen und Protest.

SRF: Wie erklären Sie sich, dass in Berlin Menschen aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern zusammen demonstrierten?

Peter Ullrich: Ich glaube, das ist ein etwas irriger Eindruck. Er rührt daher, dass dort Personen auftreten, die äusserlich klar dem rechten Lager zuzuordnen sind, und solche, die einen anderen optischen Eindruck vermitteln – die bunt oder wie Hippies gekleidet sind.

Es ist aber deutlich geworden, dass nur vereinzelt explizit linke Akteure vertreten waren, insbesondere keine organisierten. Von Linken kam eher Gegenprotest, insbesondere von verschiedenen Antifa-Gruppen.

Das ist eine zutiefst undemokratische Struktur, die sich aber den äusseren Anschein gibt, besonders demokratisch zu sein.

Das heisst, es gibt ein organisiertes rechtes Spektrum, das eine wachsende Rolle gespielt hat im Verlauf der Proteste. Und es gibt ein eher diffuses Milieu von verschiedenen esoterischen Gruppen und Verschwörungstheoretikern, die ohnehin eine gewisse Offenheit für rechte Ideologie-Fragmente haben.

Es ist also gar nicht so eine unwahrscheinliche Mischung, wie der optische Eindruck im ersten Moment suggeriert.

Demonstrationszug. Im Fordergrund eine Person mit Gasmaske und Mütze. Dahinter eine Regenbogenfahne.
Legende: Die Demonstranten in Berlin gaben sich bunter, als sie wirklich sind, sagt der Soziologe Peter Ullrich. Keystone / PAUL ZINKEN

Was vereint die unterschiedlichen Demonstrierenden? Ist es das Misstrauen gegenüber dem Staat?

Ein einigendes Moment ist die extreme Entfremdung von gesellschaftlichen Institutionen. Das betrifft den Staat, aber auch zivilgesellschaftliche Institutionen wie die Wissenschaft.

Ein Konsens dieser Bewegung scheint zu sein, dass man sich selbst in einem Wissensvorsprung wähnt. Dass man über Informationen zu verfügen glaubt, die allem widersprechen, was hegemonial gesellschaftlich geteilt wird.

Das zeigt sich bei den Corona-Leugnungs-Demonstrationen insbesondere in der Selbststilisierung als Vertretung des Volkswillens. Man ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung eine relativ kleine Anzahl von Leuten, geriert sich aber als Ausdruck des Volkswillens.

Der optische Fehleindruck, dass es eigentlich eine ganz bunte, friedlich-freundliche Mischung wäre, ist ein Problem.

Das ist eine zutiefst undemokratische Struktur, die sich aber den äusseren Anschein gibt besonders demokratisch zu sein. Deswegen kann man auch mit dem Grundgesetz demonstrieren und gleichzeitig extrem antidemokratische Aspekte vertreten.

Bergen diese Demonstrationen die Gefahr, dass weniger politisierte Menschen – Esoteriker zum Beispiel oder Anhänger von Verschwörungstheorien – bei rechten Bewegungen andocken?

Ja. Der optische Fehleindruck, dass es eigentlich eine ganz bunte, friedlich-freundliche Mischung wäre, ist ein Problem. Der Anschein von Friedlichkeit deckt sich nicht mit dem autoritären Potenzial und dem Gewaltpotenzial, das von diesem Protest ausgeht.

Man muss noch mal sagen: Es ist nicht nur die unsolidarische und gesellschaftsfeindliche Verweigerung der Masken. Auch Antisemitismus spielt eine grosse Rolle, die Selbststilisierung als Opfer wie Juden in Vernichtungslagern.

Der Verschwörungsglaube, die illiberale Selbstermächtigungs-Fantasie, die extreme Aggressivität gegenüber Kritik und Presse – das alles wird hinter einigen Peace-Fahnen und bunt gewandeten Tänzerinnen versteckt.

Wird die Bewegung weiteren Zulauf bekommen, falls wegen steigender Infektionszahlen die Massnahmen gegen Corona nochmals verschärft werden?

Nicht unbedingt. Konsequenz könnte durchaus wirken, denn gerade bei autoritär veranlagten Personen wissen wir, dass ein autoritäres Agieren Erfolg haben kann. Bisher geniessen die Proteste weitgehend Narrenfreiheit. Am Wochenende dauerte es Stunden, bis die Polizei gegen das massive Unterlaufen der Massnahmen vorgegangen ist.

Aber man sollte auch einen Blick auf den gesellschaftlichen Kontext werfen: Solange die Massnahmen für viele nur eine lästige Pflicht sind, der kaum noch nachgegangen wird, ist es schwierig, den Eindruck zu vermitteln, dass das wirklich eine in allen Bereichen ernst genommene Aufgabe ist.

Wenn die Achtsamkeit gegenüber anderen eine grössere Rolle spielen würde, würde das den Protesten Wind aus den Segeln nehmen.

Das Gespräch führte Irene Grüter.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 4.8.2020, 17:20 Uhr. ; 

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