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Corona und die Psyche «Ein Dilemma zwischen Sicherheit und Freiheit»

Experten und Expertinnen warnen vor einer zweiten Corona-Welle. Gleichzeitig drängeln sich Menschen in Parks, Clubs und Läden. Immer weniger Leute desinfizieren sich die Hände, kaum jemand trägt Schutzmasken. Völlig unvernünftig oder schlicht normal?

Wir haben uns an die Bedrohung gewöhnt, sagt der Basler Psychologe Charles Benoy, der in diesen Tagen ein Buch über die psychischen Folgen von Corona veröffentlicht hat. Jetzt gelte es, einen Mittelweg zu finden, der dafür sorgt, dass wir uns sicher fühlen und trotzdem frei.

Charles Benoy

Psychotherapeut

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Charles Benoy ist Psychotherapeut und leitender Psychologe am Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie an der Klinik für Erwachsene der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.

Er hat ein Fachbuch zu den Folgen der Corona-Pandemie veröffentlicht: «COVID-19. Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche». Kohlhammer 2020.

SRF: Wieso verhalten sich viele Menschen so unvorsichtig, wie sie es gerade tun?

Charles Benoy: Dieses Verhalten war zu erwarten. Das würde man allgemeinsprachlich einen «Gewohnheits-Effekt» oder in der Psychologie eine «Habituation» nennen.

Unser Verstand und unser Gehirn haben sich an Gefahren gewöhnt, und viele Menschen sind deshalb nachlässig geworden.

Gewöhnen sich die Leute an die Gefahr oder verdrängen sie sie?

Verdrängen ist ein Prozess, den man nicht direkt beobachten kann. Wir blenden etwas aus, was wir nicht sehen wollen oder nicht sehen können. In der jetzigen Situation teilt sich die Bevölkerung sehr stark in zwei Gruppen.

Da sind diejenigen, die schon einmal persönlich mit Corona in Kontakt gekommen sind, also entweder das Virus hatten oder jemanden kennen, der darunter gelitten hat. Das sind Menschen, die die Bedrohung sehr gut kennen und entsprechend vorsichtig sind.

Es gibt nie eine Garantie, dass sich jeder an den gefundenen Mittelweg hält.

Die andere Gruppe hat zwar zu Beginn die Massnahmen eingehalten, weil sie an die Bedrohung geglaubt hat. Sie hat sie aber nie persönlich erlebt und kann sie deswegen heute ausblenden. Diese Leute neigen zur Unvorsicht.

Das BAG empfiehlt dringend, im öffentlichen Verkehr Masken zu tragen. Trotzdem tun das die allerwenigsten. Wieso wirkt eine dringende Empfehlung psychologisch anders als ein Zwang?

Der Mensch hat unterschiedliche Bedürfnisse. Auf der einen Seite ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Er möchte vor dem Virus geschützt werden. Der Mensch hat aber auch das Bedürfnis nach Freiheit. Er möchte selbst entscheiden können, was er tut.

Aus der Sicherheitsperspektive wünschen wir uns Verbote oder eine Maskenpflicht, damit wir geschützt werden. Aber da wir selber auch von diesem Verbot betroffen und eingeschränkt sind, wünschen wir uns auch möglichst viel Freiheit.

Das ist das Dilemma, in dem wir uns befinden und welches man erst einmal gar nicht auflösen kann. Dazu kommt: Wenn alle keine Masken tragen, warum sollte ich es tun, wenn andere Menschen das nicht müssen?

Was wäre aus Ihrer Sicht als Psychologe ein gesunder Mittelweg für eine neue Normalität mit Corona?

Der Mittelweg ist der Weg, den wir im Moment noch alle gemeinsam suchen. Es ist wichtig, dass wir einen Mittelweg finden, der einerseits die Psyche möglichst wenig belastet, also die Freiheit nur so weit einschränkt, wie es wirklich notwendig ist.

Andererseits soll er eben auch genügend streng sein, um ein Sicherheitsgefühl entstehen zu lassen. Auch für diejenigen, die ängstlich sind und die wir im Moment gar nicht sehen oder hören, weil sie sich nicht trauen, wieder vor die Tür zu gehen.

Es ist wichtig, immer wieder auf die Gefahren hinzuweisen und an die eigene soziale und gesellschaftliche Verantwortung zu erinnern. Das ist das, was wir tun können. Eine Garantie dafür, dass jeder sich daranhält, gibt es nicht.

Das Gespräch führte Katharina Brierley.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 29.6.2020, 07:20 Uhr ; 

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