Die Philosophin Dagmar Fenner ist hochsensibel. In einem neuen Buch berichtet sie von ihren Erfahrungen, geht der Hochsensibilität philosophisch auf den Grund und denkt auch über praktische Fragen nach.
SRF: Sie haben Ihre eigene Hochsensibilität vor einigen Jahren entdeckt. Warum schreiben Sie von einer Entdeckung, nicht von einer Diagnose?
Dagmar Fenner: Hochsensibilität ist keine psychische Störung, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal. Die meisten Hochsensiblen erkennen sich in einem Artikel oder Blog zum Thema wieder oder werden von Freunden oder auch Therapeuten etwa im Zusammenhang mit einem Burnout darauf hingewiesen.
Für Sie war die Einsicht, hochsensibel zu sein, eine grosse Erleichterung. Weshalb?
Weil man sich nicht mehr so allein und verkehrt vorkommt auf der Welt. Von weniger sensiblen Menschen bekommt man häufig zu hören, man solle doch nicht über alles so viel nachdenken, so empfindlich sein und immer alles verkomplizieren, sondern sich ein dickeres Fell wachsen lassen!
Das Thema Hochsensibilität klingt eher nach Psychologie. Was macht es philosophisch relevant?
Als Ethikerin hat mich vor allem die Frage interessiert, wie in unserer Leistungsgesellschaft mit Menschen, die nicht dem gängigen Ideal eines flexiblen, belastbaren und wettbewerbsfähigen Menschen entsprechen, umgegangen wird oder umgegangen werden sollte.
Anders als psychologische Studien oder die Ratgeberliteratur wollte ich das Phänomen in einen grösseren gesellschaftlichen Kontext stellen.
Studien besagen, dass rund 15 Prozent der Bevölkerung hochsensibel sind. Einige verfertigen daraus eine Zeitdiagnose: Hochsensibilität nehme zu, sagen sie, weil unsere Welt zu laut, hochtourig und leistungsorientiert sei. Sie zeigen in Ihrem Buch, dass dieser Beschleunigungsdiskurs nicht neu ist: Er wurde bereits um 1900 intensiv geführt.
Solche Zeitdiagnosen sind immer schwierig, wenn Phänomene wie zum Beispiel auch Burnout oder ADHS neu beschrieben oder diagnostiziert werden. Vermutlich gab es in früheren Zeiten gleich viele Hochsensible, nur fühlen sich immer mehr von ihnen unter den beschleunigten, hektischeren und lärmigeren Bedingungen überfordert. Tatsächlich gab es bereits zwischen 1880 und 1920 einen grossen Beschleunigungsschub, sodass sich berühmte Persönlichkeiten wie Thomas Mann, Hermann Hesse oder Rudolf Steiner wegen «Neurasthenie» in Sanatorien begaben.
Vermutlich gab es in früheren Zeiten gleich viele Hochsensible.
Hochsensible Menschen sind empfänglicher für Stimmungen und Zwischentöne und deshalb schneller überreizt. Sie schreiben, man müsste ihnen Einzelbüros zugestehen, damit sie produktiv arbeiten können?
Hochsensible brauchen andere Arbeitsbedingungen als Normalsensible und haben daher zum Beispiel ausserordentlich vom Homeoffice in der Coronazeit profitiert.
Viele bringt jedes kleinste Geräusch oder eine Missstimmung im Büro völlig aus dem Konzept. Und durch das Gefühl des Beobachtet-Werdens, durch Zeit- und Wettbewerbsdruck werden sie sofort fahrig und unkonzentriert. Am produktivsten sind sie, wenn sie sich frei von Druck und selbstbestimmt in eine Arbeit vertiefen können.
Wir führen dieses Gespräch schriftlich, weil Ihnen nicht nur persönliche Treffen, sondern auch Telefonate viel Energie abringen. Ist Ihre Hochsensibilität zuweilen eine Last?
Hochsensibilität wird erst zur Last, wenn wir in überstimulierende Situationen hineingeraten oder unangemessene Erwartungshaltungen an uns herangetragen werden, die wir trotz grösster Anstrengungen aufgrund einer anderen Denk- und Wahrnehmungsweise nur schwer erfüllen können.
Viele Hochsensible drücken sich lieber schriftlich aus als mündlich, weil sie dann in Ruhe alles überlegen und nochmals durchgehen können – also herzlichen Dank für das Entgegenkommen!
Sie plädieren dafür, dass Hochsensible sich nicht in erster Linie an die Umwelt anpassen müssen, sondern wir die Welt so einrichten sollten, dass auch Hochsensible sich entfalten können. Würde unsere Welt dadurch letztlich menschlicher?
Ich wollte diese Anpassungsbemühungen nicht gegeneinander ausspielen. Auch hochsensible Menschen sollten sich wie alle anderen auch um gesellschaftliche Integration bemühen, statt nur sich selbst verwirklichen zu wollen.
Aber im Sinne des «Diversity Managements» müssen die Arbeitsbedingungen angepasst werden, damit alle Menschen mit besonderen Bedürfnissen ihre Potentiale einbringen können. Eine Orchidee braucht einfach andere Umgebungsbedingungen zum Gedeihen als ein Löwenzahn.
Es ginge sicher zu weit, Hochsensible in Watte zu packen oder nur mit Samthandschuhen anzufassen.
Im Buch erwähnen Sie den Stardirigenten Carlos Kleiber, der bei minimalen Spannungen im Orchester oder mit den Veranstaltenden wieder abgereist sein soll. Wäre es für hochsensible Menschen nicht besser, etwas robuster zu werden, statt sie vor der Welt zu schützen?
Es ginge sicher zu weit, Hochsensible in Watte zu packen oder nur mit Samthandschuhen anzufassen. Es ist ihnen aber kaum möglich, weniger intensiv zu erleben und Unstimmigkeiten oder Spannungen nicht wahrzunehmen.
Jedoch kann von ihnen erwartet werden, sich kommunikative oder emotionsregulatorische Kompetenzen anzueignen, um in brenzligen Situationen gelassener oder lösungsorientierter reagieren zu können – im Fallbeispiel etwa einen Mediator für die Deeskalation einzusetzen und das gemeinsame Ziel des Konzerts zu priorisieren.
Hochsensibilität wird auch kritisiert. Die sogenannte «Generation Snowflake» etwa sei überempfindlich und ertrage keinerlei Kritik. Das Resultat sei keine menschlichere, sondern eine intolerante Gesellschaft. Wehe, man ist nicht sensibel und politisch korrekt genug. Wie kommen solche Vorwürfe bei Ihnen an?
Für eine menschliche, tolerante Gesellschaft scheint es mir enorm wichtig zu sein, auf das Leid, auf Diskriminierungserfahrungen oder mangelnde soziale Anerkennung von Minderheiten aufmerksam zu machen.
Natürlich wäre aber eine offene, kritische Auseinandersetzung wünschbar. Zum Beispiel über eine gesellschaftlich zumutbare Rücksichtnahme.
Das Gespräch wurde schriftlich geführt. Die Fragen stellte Barbara Bleisch.