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Gesellschaft & Religion Das grosse Hin und Her: Wenn Flüchtlinge verschoben werden

Seit das Abkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft ist, sind die illegalen Ausreisen von Flüchtlingen in Richtung Griechenland signifikant zurückgegangen. Doch die legale Ausreise von syrischen Flüchtlingen nach Europa stockt. In der Türkei nehmen die Spannungen zu.

  • Das Flüchtlings-Abkommen zwischen der Türkei und der EU zeigt Wirkung
  • Die Küstenwache hindert Boote an der Abreise und drängt sie auf hoher See ab
  • Flüchtlings- und Menschenrechtsaktivisten bezeichnen das Abkommen weiter als inakzeptabel

Die Stille in der Bucht

Die kleine, felsige Bucht in der Nähe des kleinen Touristenorts Assos liegt an diesem Tag anfangs April verlassen da. Nur ein alter Mann stochert auf der Suche nach Brauchbarem mit einem Stock im Abfall herum. Das weiträumige Gelände ist übersät mit Abfall: Kleider, Schuhe, kaputte Rucksäcke, Plastiktüten, Koffer, Zeltplanen, einzelne Rollstühle, mechanische Pumpen.

Die Olivenhaine von Assos waren einer der wichtigsten Drehpunkte der illegalen Emigration. Im Herbst und Winter des letzten Jahres sind hier Zehntausende Flüchtlinge durchgekommen. Meist haben sie in Assos ein paar Tage gewartet, bis sie in eines der Schlauchboote steigen konnten, das sie auf die gegenüberliegende Insel Lesbos brachte.

Jetzt ist es totenstill in der kleinen Bucht. Die Flüchtlinge sind verschwunden. Die Dorfbewohner erklären übereinstimmend, seit Mitte März seien kaum mehr Flüchtlinge gekommen. Seit Anfang April seien sie ganz ausgeblieben.

Das Abkommen zeigt Wirkung

Auch an anderen Orten entlang der Küste – etwa in Cesme oder Ayvalik – sind die Flüchtlinge verschwunden. Zumindest sind sie auf Strassen und Plätzen nicht mehr zu sehen. Es ist offensichtlich: Das Abkommen zwischen der Türkei und der EU zwecks Eindämmung der klandestinen Emigration zeigt Wirkung.

Das bestätigen auch die Statistiken des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Während im November 2015 noch über 5000 Ausreisen und im März noch durchschnittlich 870 Ausreisen pro Tag in Richtung griechische Inseln gezählt wurden, waren es in der zweiten Aprilwoche noch 63 Überfahrten pro Tag. Am 10. April wurde offiziell keine einzige Ausreise registriert.

An der Ausreise gehindert

Der türkische Journalist Metehan Ud, der für die Zeitung «Evrensel» arbeitet, führt diese markante Abnahme in erster Linie auf die Kontrolle der türkischen Gendarmerie auf den Strassen in der Ägäisregion zurück. Busse mit Flüchtlingen würden systematisch zurückgewiesen. Zudem habe die Küstenwache begonnen, Boote an der Abreise zu hindern und Boote auf hoher See abzudrängen.

Fast täglich komme es auch zu Verhaftungen von Schleppern. Andere Beobachter und Kenner der Verhältnisse bestätigen diese Einschätzung. Alle Befragten gehen davon aus, dass die Türkei die Flüchtenden bis zum 20. März 2016 weitgehend «durchgewinkt» habe, um in den Verhandlungen mit der EU über bessere Karten zu verfügen.

Rückschaffungen kommen nicht in Gang

Ruhig ist es auch im Hafen von Dikili, rund 100 Kilometer nördlich der Millionenstadt Izmir. Hier haben die ersten zwei Schiffe mit Flüchtlingen aus Lesbos angelegt, die aufgrund des Abkommens in die Türkei zurückgeschafft wurden. Die insgesamt etwas mehr als 300 Flüchtlinge stammten fast alle aus Pakistan und Afghanistan; nur gerade zwei Syrer waren darunter.

Osman Özgüven, während 20 Jahren Bürgermeister der Stadt Dikili, war am Hafen, als die beiden Flüchtlingsschiffe aus Lesbos am 6. und 8. April anlegten. Das erste Mal kam es zu heftigen Protesten von Einwohnern von Dikili. Viele Menschen – vor allem einfache Land- und Erntearbeiter – befürchteten, die Flüchtlinge könnten ihnen die Arbeit wegnehmen, erklärt Özgüven. Die Proteste seien aber auch von gewissen Parteien politisch instrumentalisiert worden.

Die Rückschaffungen kommen nur schleppend voran, unter anderem deshalb, weil viele Flüchtlinge auf Lesbos ein Asylgesuch stellen und weil sie sich gegen die erzwungene Rückführung in die Türkei wehren.

«Eine Schande»

Für Flüchtlings- und Menschenrechtsaktivisten ist das Abkommen zwischen der EU und der Türkei inakzeptabel. Es sei für beide Parteien eine «Schande», sagt etwa die Psychologin Piraye Bayman aus Ayvalik.

Sie bemängelt nicht nur den «unmenschlichen Deal» zwischen den beiden Vertragsparteien, sondern auch die vollständige Intransparenz bezüglich der Auswahl Kriterien, nach denen syrische Flüchtlinge für eine legale Ausreise in die EU ausgewählt werden. Schliesslich befürchtet sie, dass die Milliardenzahlungen der EU nicht den Flüchtlingen zugute kommen.

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