Die Jesus-Figur in Milo Raus neuem Film «Das neue Evangelium» ist ein Sozialrevolutionär und Widerstandskämpfer, der gegen die ausbeuterischen Verhältnisse auf den italienischen Tomatenfeldern kämpft.
Doch Yvan Sagnet, der Protagonist, spielt das nicht nur. Er ist es auch im realen Leben. Auch alle Apostel in Raus Film sind im Leben echte Betroffene – vom Land- über die Sexarbeiterin.
Alles Apostel
So bringt Rau die aktuellen sozialen und humanitären Missstände in Italien mit dem «kapitalistischen Sklavenstaat» des römischen Reiches zu Zeiten Jesu auf die gleiche Ebene.
«Wir sind noch in einer sehr ähnlichen Situation der Ausbeutung wie damals», sagt Rau.
Neuinterpretation der Bibel
Weshalb braucht es denn ein neues Evangelium, wenn doch die christlichen Botschaften ihrem Anspruch nach zeitlos sind?
Eine Neu-Interpretation dessen, was die Bibel uns heute sagt, tue stets not. «Ich wäre ja froh, wenn diese Bibel irgendwann nicht mehr gebraucht wird», sagt Rau.
Er selbst habe das Neue Testament erst vor Beginn der Dreharbeiten detailliert zu lesen begonnen. Dadurch habe er auch eine Beziehung zur Figur Jesus entwickelt, die er eben als einen Sozialrevolutionären versteht, als jemanden, der «für die Würde des Menschen» kämpft. «Ein unglaublich interessanter Charakter», findet Rau.
Transparentes Scheitern
Fasziniert ist der Filmemacher auch davon, dass die Bibel das Scheitern dieser Figur nicht verheimliche. Jesus sei «der einzige Messias der Weltgeschichte, der verraten, verleugnet und ans Kreuz genagelt wird.»
Die Bibel glorifiziere Jesus also nicht einfach, sondern zeichne dessen «schwierigen Charakter» nach und verhehle nicht, wie er die Kontrolle über seine Gefolgschaft verliere. Deshalb sieht Rau darin auch «ein sehr ehrliches Buch», das ganz unterschiedliche Perspektiven in sich vereine.
Ein grosses Casting
«Mich interessiert die Gespaltenheit des Menschen», so Rau. Auch die «Schwierigkeit von Solidarität» beschäftigt ihn.
Ausgerechnet in der Bibel findet er ein Zeugnis davon, was es bedeutet, wenn unterschiedlichste Gruppen von Menschen zusammenarbeiten müssen. «Für mich ist das Neue Testament ein grosses Casting jener Menschen, die an den Peripherien der Gesellschaft leben.»
Verlorene Sprengkraft
Das Problem für die Bibel sei aber, «dass die Kirche sich dieses Buch angeeignet habe». Viel von seiner sozialrevolutionären Sprengkraft sei dabei verloren gegangen, meint Rau.
Er verweist auf die teilweise dramatische Kirchengeschichte, in der man sich fragen könne, für wen Jesus wirklich gekämpft hätte.
Kirche und Flüchtlingspolitik
Gleichzeitig spricht Rau voller Anerkennung von Papst Franziskus und seiner Umwelt-Enzyklika.
Er begrüsst die «sozialpolitische Lesart der Bibel», die dem Papst von konservativen Kreisen freilich auch immer wieder Kritik einbringen. Das sind äusserst versöhnliche Töne gegenüber der Religion für jemanden, der sich als Marxist versteht.
Er sei in einer säkularen Gesellschaft aufgewachsen, in der man die Kirche oft mit Pädophilie assoziiere. «Darüber muss man hinwegkommen.»
Die Kirche als Gegenbastion
Rau stellt fest: Flüchtlingshilfe, Seenotrettung – da engagiere sich die Kirche. Damit sei sie zu einer «Gegenbastion gegen eine unmenschliche Politik» geworden.
Soviel ist für Theatermann Rau klar: Das Einzige, was uns retten kann, ist unser gemeinsames Dasein, unsere Solidarität. Das Reich Gottes ist nicht im Jenseits, sondern immanent hier auf Erden.