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Debatte über Cancel Culture Bernhard Schlink: «Moralisieren hat Hochkonjunktur»

Der Mainstream lässt keine Gegenstimmen mehr zu und lädt sich vermehrt moralisch auf. Das ist die Diagnose des Schriftstellers Bernhard Schlink zur Debattenkultur, die in seinen Augen kränkelt. Sein Rezept: Mehr Auseinandersetzungen.

Bernhard Schlink

Schriftsteller und Jurist

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Der 1944 in Bielefeld geborene Bernhard Schlink lebt in Berlin und New York. Sein 1995 erschienener Roman «Der Vorleser», der später mit Kate Winslet in der Hauptrolle verfilmt wurde, machte ihn zum literarischen Weltstar. Zuletzt erschien von ihm der Erzählband «Abschiedsfarben».

SRF: Sie glauben, die Gesellschaft verabschiede sich von Toleranz und begebe sich in einen gefährlichen Moralismus. Woran machen Sie das fest?

Bernhard Schlink: In Deutschland mache ich es daran fest, dass der Mainstream über die Jahre immer enger geworden ist. Vieles haben wir als alternativlos dargestellt bekommen: den Euro, die Osterweiterung der Europäischen Union, den Ausstieg aus der Kernenergie, 2015 die Aufnahme der Flüchtlinge. Und all die, die jeweils skeptisch oder dagegen waren, fielen raus. Man redete nicht mit ihnen, sondern hat sie an die Ränder gedrückt.

Es gibt die Tendenz, den Mainstream immer enger zu fassen.

So haben wir die Rechten bei uns überhaupt erst so stark gemacht, wie sie jetzt sind. Und diese Tendenz, den Mainstream immer enger zu führen und über die, die nicht reinpassen, moralisierend und ablehnend zu urteilen, bedeutet einen Verlust an Toleranz. Es bedeutet einen Verlust an Meinungsvielfalt.

Wie passiert so was?

Das geschieht ganz stark in den Medien und in der Politik. Die tragenden Parteien haben Entscheidungen zu diesen ganzen Fragen in grossem Konsens und mit wenig Diskussion vollzogen.

Warum haben wir Mühe, Pluralismus zu akzeptieren?

Es ist einfacher, die Auseinandersetzung zu verweigern, als sich mit Meinungen, die nicht schon im Mainstream sind, auseinanderzusetzen. Das ist ja auch der Grund, warum das Moralisieren so hohe Konjunktur hat.

Statt sich mit einer komplexen Situation zu beschäftigen, ist es natürlich viel einfacher, moralisch darüber zu urteilen.

Wir sprechen in diesem Zusammenhang oft über Fleischkonsum, über den Sturz von Denkmälern oder über das Umbenennen von Süssspeisen. Sie sagten in einem Interview, es gäbe wichtigere Themen und wir sollten die Moral wieder ernst nehmen. Was heisst das?

Ein Beispiel: Wir haben in Berlin jetzt grosse Verkehrsdiskussionen. Fahrradverkehr soll mehr Raum haben, Autoverkehr weniger. Das ist ja eine ganz vernünftige Sache, über die man ganz vernünftig reden kann.

Wir nehmen die wirklich moralischen Konflikte nicht mehr ernst.

Tatsächlich wird die Diskussion aber moralisch total aufgeladen geführt. Es gilt nicht nur, die Autos zu reduzieren, sondern es gilt, mit den Autos eigentlich das Böse zu bekämpfen. Es gilt nicht nur, dem Fahrradverkehr mehr Raum zu schaffen, sondern dem Guten mehr Raum zu schaffen. Um diese Verkehrsfrage zu lösen, brauchen wir aber keine Moral.

Sie plädieren also dafür, die Moral rauszulassen aus Diskursen, die wir ohne Moral genauso gut führen können. Was ist das Problem mit der Moral?

Dass wir die wirklichen moralischen Konflikte nicht mehr ernst nehmen. Wir preisen es zum Beispiel als Zivilcourage, wenn junge Leute demonstrieren. Was schön ist, was sie eigentlich aber gar nichts kostet.

Die Schulen sanktionieren das Fernbleiben vom Unterricht am Freitag nicht, die Gesellschaft findet toll, was sie machen – was für eine Zivilcourage braucht das? Was wirklich Zivilcourage braucht, ist etwas, was kostet, was vielleicht wehtut.

Darauf bereitet man sich nicht vor, indem man etwas als Zivilcourage und als moralische Handlung rühmt, was eigentlich billig zu haben ist.

Sie beklagen auch, dass viele Diskurse durch die Moralisierung intellektuell langweilig wurden. Warum langweilt sie die Moral?

Wir sind uns ja alle einig, dass es mit dem Verkehr nicht so weitergeht, dass es mit dem Fleischkonsum nicht so weitergeht und so weiter. Doch uns unsere Einigkeit darüber wieder und wieder zu versichern, finde ich in der Tat langweilig.

Interessanter finde ich die Debatte: Wie organisieren wir den Verkehr neu? Wie organisieren wir unseren Konsum so, dass wir andere nicht ausbeuten? Alles Sachen, über die man vernünftig reden kann, ohne dass wir uns wieder und wieder versichern müssen, dass wir moralisch doch so gut dastehen.

Das Interview ist ein verschriftlichter Ausschnitt aus der Sendung «Sternstunde Philosophie». Das Gespräch führte Barbara Bleisch.

Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 04.10.2020, 11:00 Uhr ; 

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