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Wer steckt hinter dem Gesichtsschleier?
Aus Blickpunkt Religion vom 17.01.2021. Bild: KEYSTONE/DPA/Christian Charisius
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Debatte über Verschleierung Warum einige Musliminnen freiwillig einen Nikab tragen

Für viele muslimische Frauen sei der Schleier kein Zwang, sondern biete Schutz, sagt Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti. In seinem neuen Buch schreibt er gegen gängige Vorurteile an.

Frauen, die einen Gesichtsschleier tragen, werden von ihren Vätern, Ehemännern oder der Familie dazu gezwungen. So lautet ein weit verbreitetes Vorurteil über Musliminnen mit Nikab.

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Gespräche mit Nikab-Trägerinnen in westeuropäischen Staaten zeigten aber genau das Gegenteil, sagt Andreas Tunger-Zanetti, Islamwissenschaftler an der Universität Luzern: «Die Musliminnen entscheiden sich aus freien Stücken für den Gesichtsschleier – oft gegen den Willen ihrer Familien oder ihrer Ehemänner.»

In Grossbritannien, Frankreich, Dänemark, Belgien und den Niederlanden gibt es Untersuchungen zu den Motiven von muslimischen Frauen, einen Nikab zu tragen. «Die Erkenntnisse aus diesen Ländern lassen sich auf die Schweiz übertragen», ist Andreas Tunger-Zanetti überzeugt.

Zum einen, weil die Umstände ähnlich seien. Zum anderen hat der Forscher auch in der Schweiz mit einer Frau mit Nikab gesprochen. «Ihre Aussagen decken sich erstaunlich gut mit den Erkenntnissen aus anderen europäischen Ländern», sagt Andreas Tunger-Zanetti.

Die Burka-Debatte in der Schweiz

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Im März stimmt die Schweiz über die sogenannte Burka-Initiative ab. Der Bundesrat und das Parlament empfiehlt, die Initiative an der Urne abzulehnen. Ein indirekter Gegenvorschlag wird bei einem Nein zum Burka-Verbot automatisch in Kraft gesetzt.

Die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» verlangt, dass in der ganzen Schweiz niemand im öffentlichen Raum das Gesicht verhüllen darf.

Nur gerade 37 Nikab-Trägerinnen in der Schweiz

Dass der Luzerner Islamwissenschaftler Forschungen aus dem Ausland herbeiziehen muss, ist kaum erstaunlich: In der Schweiz gibt es nach seinen Schätzungen höchstens 37 Frauen, die einen Gesichtsschleier tragen. Und sie leben sehr zurückgezogen. Sogar für Andreas Tunger-Zanetti, der viele Schweizer Musliminnen und Muslime gut kennt, ist es schwierig, diese zu finden.

Andreas Tunger-Zanetti stützt sich in seinem neusten Buch «Verhüllung. Die Burka-Debatte in der Schweiz» also auf europäische Forschung und eigene Untersuchungen in der Schweiz. Und er kommt zum Schluss: Nikab-Trägerinnen stammen meist aus einem religionsfernen Umfeld, entscheiden sich in ihrer Jugend oder mit anfangs 20 für den Gesichtsschleier. «Aus einem Wunsch, besonders gottgefällig, besonders fromm zu sein», erklärt Andreas Tunger-Zanetti.

Der Gesichtsschleier im Koran

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Im Islam gibt es keine Pflicht, das Gesicht zu verschleiern. Weder im Koran, noch in der Sunna – also den Erzählungen vom Leben Mohammeds – lässt sich eine Verpflichtung ableiten, dass eine Frau ihr Gesicht verhüllen muss. Als individueller, freiwilliger Akt der Frömmigkeit ist die Vollverschleierung allerdings zulässig.

Streng gläubig ja, fundamentalistisch nein

Das wiederum führt zum nächsten Vorurteil: Dass Frauen mit Gesichtsschleier einen besonders strengen Islam praktizierten, ja fundamentalistisch seien. «Tatsächlich tauchen in ihren Argumentationen immer wieder salafistische Konzepte auf», sagt Andreas Tunger-Zanetti. «Allerdings sind die Frauen keine Speerspitzen einer salafistischen Bewegung. Einige halten sich nicht einmal an alle Regeln, beten etwa nicht fünf Mal täglich.»

Buchhinweis

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Andreas Tunger-Zanetti: «Verhüllung. Die Burka-Debatte in der Schweiz». Hier und Jetzt, 2021.

Vielmehr seien sie «religiöse Einzelunternehmerinnen». Und manch eine legt das Kopftuch später auch wieder ab. Die berühmteste Schweizer Nikab-Trägerin, Nora Illi, die letztes Jahr verstarb, habe hier ein falsches Bild hinterlassen.

Nikab als Schutz, nicht als Einschränkung

Auffällig sei, dass der Gesichtsschleier bei vielen Frauen auch eine Note des Protests beinhalte – gegen die eigene, religionsferne Familie oder gegen eine Gesellschaft, die Nikab-Trägerinnen als zu freizügig empfinden. Der Nikab ist für sie ein Schutz, eine Befreiung und keine Einschränkung.

Unter dem Strich lasse sich also für die Schweizer Nikab-Trägerinnen annehmen, dass ihnen der Gesichtsschleier nicht aufgezwungen wurde, dass sie nicht von Verwandten unterdrückt werden und dass sie keine Fundamentalistinnen seien, sagt Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti.

Allerdings wäre es wünschenswert, noch mehr über die wenigen Frauen mit Gesichtsschleier in der Schweiz zu erfahren. Damit mehr mit den Frauen statt über sie diskutiert wird.

Sendung: Radio SRF 1, Zwischenhalt, 16.01.2020, 18:30 Uhr

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