Das Corona-Virus bringt Protestbewegungen weltweit zum Erliegen. Wegen des Versammlungsverbots rief etwa Greta Thunberg vor ein paar Wochen dazu auf, den Klimastreik ins Netz zu verlagern.
Kann das die Massenbewegung auf der Strasse ersetzen? Wie können sich Demonstranten weiterhin Gehör verschaffen? Mit kreativen Mitteln, sagt der Politikwissenschaftler und Protestforscher Wolfgang Kraushaar.
SRF: Nehmen wir das Beispiel des Klimastreiks: K ann er im Netz weiterhin erfolgreich sein?
Wolfgang Kraushaar: Nein – eine so gewaltige Massenmobilisierung, wie sie «Fridays für Future» letztes Jahr rund um den Globus generiert hat, lässt sich nicht einfach auf das Internet übertragen.
Social Media ist zwar unglaublich effektiv, um Proteste zu initiieren und zu koordinieren. Ihnen auch plastisch Ausdruck zu verleihen, wie es auf Strassen und Plätzen möglich ist, schafft das Internet aber nicht.
Ein traditionelles Mittel bekommt nun wieder einen besonderen Stellenwert.
Die kollektive Körperlichkeit und die Atmosphäre: Das sind die qualitativen Unterschiede zwischen einem Protest, der in der Wirklichkeit stattfindet, und einem virtuellen Protest.
Gibt es denn andere Beispiele, wie Protestbewegungen mit dieser neuen Ausgangslage kreativ umgehen können?
In meiner Heimatstadt Hamburg hat man etwa das gegenwärtige Versammlungsverbot so ausgelegt, dass man bei einer Demonstration eine Menschenkette mit einem Mindestabstand von 2 Metern zwischen den Teilnehmern gebildet hat.
Die Polizei hat das kontrolliert, aber letztlich keinen Grund zum Eingreifen gesehen. Am Ende war der Protest Thema einer eigenen TV-Nachricht.
In Brasilien schlagen jeden Abend Abertausende von Einwohnern auf Kochtöpfe, um gegen die ignorante Corona-Politik ihres rechtsradikalen Präsidenten Bolsonaro zu protestieren. Seitdem geht das als Nachricht rund um die Welt. Die Töpfe sind ein traditionelles Mittel, das nun wieder einen besonderen Stellenwert bekommen hat.
In Chile oder Hongkong finden dafür aktuell keine Proteste mehr statt. Hat der Lockdown sie nachhaltig erstickt?
Sowohl in Chile als auch Hongkong ist es absolut zutreffend, von einer Erstickung der Proteste zu sprechen. Chiles Präsident Piñera hat die Armee eingesetzt, um die Proteste zu unterdrücken.
Natürlich wird es auch in Zukunft weltweit Proteste geben.
Und in der chinesischen Sonderzone Hongkong hat man den Lockdown als Gelegenheit benutzt, um die führenden Köpfe der Bewegung zu inhaftieren und einen Prozess gegen sie anzukündigen. Ein starker Staat hat damit sozusagen sein ganzes Drohpotenzial gegenüber Demonstranten in Szene gesetzt.
Werden Protestbewegungen nach dieser Krise weitergehen? Und wenn ja, wie?
Natürlich wird es auch in Zukunft weltweit Proteste geben. Aber wir wissen erstens nicht, wie lange diese Pandemie andauern wird. Zweitens wissen wir nicht, wie sehr sie die Gesellschaft, aber auch das jeweilige politische System verändert.
Ich halte die Situation insofern für offen, was die Zukunft von Protesten anbetrifft. Um zu beurteilen, was aus ihnen geworden ist, muss man wahrscheinlich bis zum Ende des nächsten Jahres abwarten.
Das Gespräch führte Igor Basic.