«Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Jahre von 1900 bis 1914 ohne die langen Schatten der Zukunft sehen, als lebendige Momente in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit, mit ihrer noch immer offenen Zukunft.» Auf dieses Gedankenexperiment hat sich der deutsche Historiker Philipp Blom eingelassen. Entstanden ist daraus das Buch «Der taumelnde Kontinent».
Blom legt dar, wie 15 Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die technischen Entwicklungen in die intimsten Lebensbereiche hineinspielten, wie die Städte explosionsartig wuchsen, wie die Fabrik das Leben der Arbeiter radikal veränderte und die Rollen zwischen Frau und Mann umkrempelte, wie die Massenproduktion aus dem Menschen einen Konsumenten machte und wie der koloniale Handel so manchen reich machte und gleichzeitig einen Blutzoll forderte.
Eine Ausstellung wie ein Kaleidoskop
Vor dem Ersten Weltkrieg sei Europa von einer Art Taumel erfasst gewesen, konstatiert Philipp Blom. Eine erregte Mischung aus euphorischem Fortschrittsglauben und einer tiefen Verunsicherung. Diese Erkenntnis bildet die Basis der atmosphärisch dichten Ausstellung «1900-1914. Expedition ins Glück», die Juri Steiner und Stefan Zweifel für das Landesmuseum in Zürich entwickelt haben.
Die beiden Kuratoren lotsen die Besucher in eine Art Glaskabinett, um diese Zeit des Umbruchs in allen Facetten zeigen zu können. In diesem verwinkelten Kabinett mit den vielen Glasvitrinen spiegeln sich die ausgestellten Werke von Ferdinand Hodler und Egon Schiele, afrikanischen Masken, Filmausschnitte und Fotografien wieder und wieder. Die Ausstellung ist wie ein Kaleidoskop. Der leise Schwindel und die Verunsicherung der Besucher sind durchaus beabsichtigt.
Eintauchen in eine einzigartige Epoche
«Die Verunsicherung bietet der Fiktion und Kreativität ungeahnte Räume – damals wie heute scheint in jedem Moment alles möglich. Die Besucher und Besucherinnen soll die Möglichkeit erhalten, in die einzigartige Epoche vor rund hundert Jahren einzutauchen und diese zu erleben», erklären Steiner und Zweifel. Dabei richten die beiden den Blick auf die mittelständische, europäische Bevölkerung und folgen in ihrer Erzählung keinem linearen Muster.
Doppeldeutig und zwiespältig
Klug kombinieren Steiner und Zweifel Gegenstände, Bilder, Film-Ausschnitte und Fotografien, so dass diese komplexe Geschichten zu erzählen beginnen. Das geht zum Beispiel so: In einer Vitrine liegen ein paar Klumpen Kautschuk, magische afrikanische Masken schauen uns an und ein Film dokumentiert eine Safari von 1908. Kautschuk, das ist der neue Wunderstoff aus Belgisch-Kongo, aus dem sich Kondome herstellen lassen – aber auch Pneus für die Fahrräder, damit die Fahrradtour aus der grauen Stadt ins lauschige Grün sanft vonstatten geht.
Dieser Fortschritt hat eine blutige Kehrseite: In den kolonialen Handelskriegen werden Millionen massakriert. Der Kautschuk wird zu einem doppeldeutigen Symbol. Gleichzeitig erhalten Künstler durch den Kontakt mit Afrika wichtige Impulse für die Kunst. Im Schwarz-Weiss-Film sehen wir, wie Giraffen gehäutet, Elefanten ausgeweidet werden – alles Trophäen, die in Europa landen.
Die Ausstellung «Expedition ins Glück» liefert keine Erklärungen dazu, warum es zur «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts kam. Sie ist in ihrer Opulenz eine sinnliche Bildergeschichte zu Philipp Bloms grandiosem Buch «Der taumelnde Kontinent».