Der Australier Christopher Clark sitzt in seinem kleinen, von Büchern vollgestellten Büro im altehrwürdigen St. Catherines College in Cambridge und denkt darüber nach, warum sein Buch so viele Reaktionen auslöst: gute Reaktionen – sein Buch verkauft sich sensationell–, aber auch schlechte – aus Serbien kommt der Vorwurf, Clark bediene mit «Die Schlafwandler» einen antiserbischen Reflex.
Professor Clark hat ein Buch geschrieben, das aus der Flut der Publikationen zum Gedenkjahr des Ersten Weltkrieges herausragt. Es beschreibt und analysiert minutiös die Situation der verschiedenen Nationen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und tut das aus den verschiedensten Blickwinkeln: meist im Zoom fokussierend auf einzelne politische Akteure mit ihren Motivationen und Interessen, dann wieder im Weitwinkel die Gesamtlage Europas und der Welt überschauend.
Neugewichten von bekannten Fakten
Neue Erkenntnisse, sagt der Geschichtsprofessor, habe er eigentlich nicht zu bieten. Er habe einfach versucht, die Schwerpunkte neu zu verteilen. «Das ist allerdings in der Geschichtsschreibung meistens so», sagt Clark, «dass der Wandel weniger mit der Entdeckung vollkommen neuer Befunde zu tun hat, sondern mit der Neubetonung von verschiedenen Aspekten eines bereits bekannten Geschehens.» Konkret heisst das in diesem Fall: Christopher Clark hat unter anderem den Balkan mehr ins Licht gerückt.
Serbien fühlt sich an den Pranger gestellt
Auf dem Balkan hat mit dem Attentat serbischer Nationalisten auf Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand alles begonnen. Abgesehen von diesem zündenden Ereignis habe sich die Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg jedoch eher stiefmütterlich mit dieser Weltgegend befasst, erklärt Clark. «Ich fand das nicht richtig, denn der Balkan war nicht nur der Urstreit zwischen Österreich und Serbien, sondern sozusagen auch das Theater, in dem sich die russisch-österreichischen Spannungen abgespielt haben.»
Clark widmet die ersten Kapitel des Buches denn auch ausführlich dem politischen Klima in Serbien, seinem aggressiven Streben nach einem ausgedehnten Nationalstaat und den nationalistischen Verschwörungszirkeln, die ihre Fäden bis in die höchsten Regierungsstellen Belgrads spannten.
In Serbien geraten deshalb die Gefühle in Wallung: Clark schiebe den Serben die Schuld am Krieg zu; Zeitungen in Belgrad titeln dieser Tage: «Unschuldig! Die Österreicher wollten schon ein Jahr vor dem Attentat den Krieg!». Dem Historiker wird Geschichtsklitterung vorgeworfen, sein Buch sei Nato-Propaganda und eine Postille, um die Serben aus der EU zu halten.
«Normalerweise passiert gar nichts»
Das sei totaler Unsinn, meint Christopher Clark. Erstens sei er für die Aufnahme der Serben in die EU. Und zweitens sei es eine abstruse Behauptung, er würde den Serben die Schuld in die Schuhe schieben: «Das habe ich nicht getan und will ich auch nicht tun. Es hat mich total überrascht, wie viel Leidenschaft noch in dieser Debatte steckt. Wenn man als Historiker ein Buch publiziert, dann ist das normalerweise wie ein Stein, den man ins Wasser wirft, und man dann weder das erwartete Geräusch hört, noch die erhofften Wellen sieht. Es passiert einfach nichts. Diesmal ist das anders.»
Die Welt heute ist ähnlich undurchschaubar wie 1914
«Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog» erreicht im deutschsprachigen Raum seit letzten September eine Auflage von 170‘000 Exemplaren. Einmal abgesehen vom Gedenkjahr, das das Interesse auf sich zieht, ist das doch eine erstaunliche Zahl, zumal das Buch zwar leicht zu lesen ist, aber doch mit einer Unzahl von Namen, Fakten und Details aufwartet. Was interessiert die Menschen am Ersten Weltkrieg? Warum sind die Fragen rund um seinen Ursprung noch relevant?
Clark glaubt, dass uns 1914 heute näher ist als noch vor wenigen Jahren. Paradox? Nein, gar nicht, meint er. Es ist erklärbar, weil wir heute in einer Welt leben, die der Welt von 1914 ähnelt, stärker als vor einigen Jahrzehnten: «Unsere Welt ist im Gegensatz zum Kalten Krieg nicht mehr bipolar stabil, sondern multipolar unstabil. Sie ist dadurch gefährlicher und vor allem undurchschaubarer geworden.»
Als Beispiel dafür kann der Streit um die Inseln im Pazifik dienen, wo Grossmachtinteressen in eine regionale Krise verstrickt sind. Die Geschichte von 1914 bietet zwar auch in dieser Situation wie immer keine direkten Lehren. Aber zu hoffen ist, dass sich die heutigen politischen Akteure weniger als die damaligen durch Panik, Überheblichkeit, Machtgehabe und Fehleinschätzungen leiten lassen.