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Ein Mann mit einer Pistole steht neben einer Kutsche.
Legende: Der Schuss auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand war der Funke, der den Ersten Weltkrieg auslöste. Wikimedia/Le Petit Journal

Der 1. Weltkrieg Ein Weltkrieg aus purem Zufall?

Ernüchternd und schockierend sind die Anlässe, warum Völker, Nationen, religiöse oder ideologische Feinde sich gegenseitig bekämpfen. Und wer zurückblickt auf all die Kriege – auf die Millionen von Toten, auf Leid und Not – fragt sich: Warum? Ein Gespräch mit dem Historiker Stig Förster.

Kann es sein, dass ein Krieg zufällig vom Zaun gebrochen wird? Dass Armeen mobilisiert werden und das grosse Morden beginnt, weil ein Auto falsch abgebogen ist? Wer die Anlässe für Kriege untersucht, bekommt das grosse Grausen. Da wird gelogen, inszeniert, da werden die kleinsten politischen Manöver instrumentalisiert, um das Ungeheuerlichste loszutreten – einen Krieg. Die Ursachen für kriegerische Auseinandersetzungen mögen sehr unterschiedlich sein: wirtschaftliche Interessen, Machtkämpfe, Rassenwahn, religiöser und ideologischer Irrsinn, aber der jeweilige Anlass steht meist in keinem Verhältnis zur zerstörerischen Kraft, die damit losgetreten wird.

Kleine Anstösse mit ungeheuerlichen Folgen

Herr Förster, vor 100 Jahren machte ein Chauffeur einen folgenschweren Fehler. Damals, 1914 in Sarajevo, bog er mit seinem Wagen falsch ab. Der Attentäter Gavrilo Princip hatte seinen Plan, den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand zu töten, schon aufgegeben. Er sass in einem Kaffeehaus, als der Konvoi plötzlich wieder vor ihm auftauchte. Begann der Erste Weltkrieg aus purem Zufall?

Stig Förster

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Der deutsche Historiker Stig Förster hat sich auf Militärgeschichte spezialisiert und forscht an der Uni Bern über die Ursachen, Hintergründe und den Verlauf von kriegerischen Auseinandersetzungen.

Stig Förster: Der Zufall spielt in der Geschichte eine grosse Rolle. Das ist etwas, was die Gesichtswissenschaft in den letzten Jahren wieder lernen musste, nachdem man sich seit den 60er-, 70er-Jahren stärker mit Strukturen, grösseren Zusammenhängen, ja bis hin zur marxistischen Sichtweise beschäftigt hat. Aber tatsächlich spielt der Zufall eine grosse Rolle. Es können Dinge passieren, die gänzlich unvorhergesehen sind. Dazu passt ein bisschen die Chaostheorie aus der Mathematik. Das heisst: Es gibt einen kleinen Anstoss, der dann ungeheuerliche Folgen hat.

Was bedeutet das im Fall des Ersten Weltkriegs?

Die Strukturen, die zu einem Krieg führen können, waren bereits vorhanden. Wir hatten diese Bündnissysteme, wir hatten einen massiven Rüstungswettlauf und vor allen Dingen hatten wir mangelndes Vertrauen: ein allgemein verbreitetes Misstrauen. Und dieses Misstrauen bezog sich nicht nur auf die potenziellen Gegner, sondern vor allen Dingen auch auf die Verbündeten. Und da spielte Sarajevo eine grosse Rolle. Wegen dieses Attentats konnte die deutsche Führung sicher sein, dass die Österreicher im Kriegsfall dabei sein werden.

Anlässe, um die Bevölkerung zu überzeugen

Aber wäre der Krieg ohne Attentat ausgebrochen?

Die Spannungen waren ja da. Es brauchte nur einen Funken, um dieses Gemisch zu entzünden. Und der Funke war Sarajevo.

Ohne den Ersten Weltkrieg ist der Zweite kaum denkbar. Obwohl man in ganz Europa von Hitlers Aggressionspolitik wusste, obwohl sein Angriffskrieg vorhersehbar war, musste ein Anlass geschaffen werden.

Die modernen Kriege im 19. und 20. Jahrhundert benötigen schon deswegen einen Anlass, damit die Bevölkerung überzeugt wird. Man kann sagen, dass man ja eigentlich angegriffen worden sei, und dass man nun zurückschlagen muss. Denn die modernen Kriege sind Kriege von ganzen Nationen. Das bedeutet, dass man die Öffentlichkeit mobilisieren muss. Der «Anlass» für den Zweiten Weltkrieg wurde frech inszeniert: Die SS steckte auf Anweisung der Führung KZ-Insassen in polnische Uniformen und hat dann Kämpfe um den Sender Gleiwitz an der polnischen Grenze simuliert. Die KZ-Insassen in polnischen Uniformen hat man erschossen, um dann hinterher die Leichen zu präsentieren, als Beweis für den polnischen Angriff. Das war eine ganz systematische Inszenierung.

Colin Powells Propaganda

Man denkt immer, das ist Vergangenheit. Aber die Lüge als politisches Mittel, um einen Krieg zu beginnen, wurde auch in letzter Zeit angewendet, zum Beispiel als Colin Powell als US-Aussenminister im UN-Sicherheitsrat die Massenvernichtungswaffen des Irak präsentierte.

Ja. Das muss den meisten Anwesenden klar gewesen sein, dass das Lug und Betrug war. Selbst ich als Laie habe von aussen gesehen, dass das nicht stimmen konnte mit den Massenvernichtungswaffen. Das war reine Propaganda, aber es gab im Sicherheitsrat auch keine Opposition dagegen.

Und bei den Kriegen heute? Der moderne Krieg im 21. Jahrhundert findet ja selten zwischen Staaten statt.

Es ist auffällig, dass in bestimmten Regionen der Welt, in Teilen von Asien und Afrika, sich die staatliche Ordnung auflöst und dann Kriege unterhalb der staatlichen Ebene stattfinden. Kriege, die zum Teil Jahre und Jahrzehnte dauern und entsetzliche Opferzahlen zur Folge haben. Das sind besonders brutale Kriege, die allerdings natürlich nicht mit den extremen Machtmitteln einer Supermacht ausgefochten werden. Aber auch hier spielt Propaganda eine riesige Rolle. Spezialisten haben zum Beispiel das terroristische Attentat definiert als einen Appell an die nicht beteiligten Zuschauer; um diese zu überzeugen, dass man da für die richtige Sache eintreten würde. Diese massive Propaganda der eigenen Position spielte immer eine Rolle und wird es auch in Zukunft tun.

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