280 wohltätige Organisationen gab es im Sommer 1914 in Genf. Darunter auch das Rote Kreuz. Obwohl das Rotkreuz-Komitee 50 Jahre nach seiner Gründung bereits von vielen Regierungen anerkannt und geschätzt war, bestand es aus lediglich zehn Personen: alle aus den Patrizierfamilien der Calvinstadt. Sie erledigten in ihrer Freizeit administrative Aufgaben und setzten sich mit dem Kriegsrecht und den Opfern des Kriegs auseinander.
30'000 Suchanfragen täglich
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Als das Rote Kreuz mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs immer mehr Briefe von besorgten Angehörigen erhielt, rief das IKRK innert Wochen eine Zentralstelle für Kriegsgefangene ins Leben. «Wer wissen wollte, was mit dem Ehemann oder den Söhnen geschah, der schrieb ans Rote Kreuz in Genf. Auf dem Höhepunkt der Feindseligkeiten kamen 30'000 Briefe. Täglich», beschreibt Jean-Luc Blondel, Leiter des IKRK-Archivs, die rasch zunehmende Flut an Anfragen. Hatten die IKRK-Mitglieder erst Freiwillige aus ihren Familien rekrutiert, mussten sie nun im weiteren Umfeld suchen.
Ende 1914 waren im dafür beschlagnahmten Museum Rath an der Genfer Place de Neuve bereits 1200 Personen – vor allem Frauen – damit beschäftigt, die Informationen der Suchaufträge zu notieren. Die Angaben wurden auf kleine Karteikärtchen geschrieben oder getippt. Der Beruf der Datatypistin war geboren.
Sieben Millionen Karteikärtchen
Die Anfragen wurden mit Gefangenenlisten abgeglichen, die das IKRK von allen kriegsführenden Ländern verlangte und auch erhielt. «Keiner glaubte an einen langen Krieg und noch weniger, dass es so viele Opfer und Verletzte geben würde», erklärt Archiv-Leiter Blondel.
In den vier Kriegsjahren kamen gegen sieben Millionen Karteikärtchen zusammen. Es sind Spuren des Schicksals von insgesamt 2,5 Millionen Kriegsgefangenen. «Einzelne Soldaten waren mehrfach aufgeführt, da mehrere Suchaufträge das IKRK erreichten. Identische Namen und phonetische Schreibweisen komplizierten das Ganze noch.» Dennoch: Die Kartei wurde das Rückgrat des umfassenden Referenzsystems des Ersten Weltkriegs.
Erste Besuche in Gefangenenlagern
Während des Krieges gerieten rund sieben Millionen Soldaten in die Hände ihrer Gegner, streckten grössere Kampfverbände die Waffen, gerieten auf einen Schlag oft Zehntausende Kombattanten auf einen Schlag in Kriegsgefangenschaft. Insgesamt hielt beispielsweise Deutschland 2,5 Millionen Soldaten gefangen, Russland 2,9 Millionen.
Erstmals schwärmten die IKRK-Mitglieder aus, um die Gefangenenlager zu besichtigen und zu überprüfen, ob die 1864 von zwölf Staaten unterzeichnete Genfer Konvention zur Milderung der «vom Krieg unzertrennlichen Übel» eingehalten wurde. «Reisen in Kriegsgebiete waren damals durchaus möglich», betont der IKRK-Archivar. Doch es seien eigentlich Expeditionen gewesen. «Der damalige Komitee-Präsident Gustave Ador hat rund 500 solcher Camps persönlich besucht.»
Deeskalation an der Gerüchte-Front
Die mit zahlreichen Fotos angereicherten Berichte dieser ersten IKRK-Delegierten wurden – anders als heute – öffentlich gemacht. «Das diente nicht zuletzt dazu, Gerüchten über die angeblich schlechte Behandlung von Soldaten in den Lagern des Gegners entgegenzutreten und so die gegenseitigen Hassgefühle etwas zu mildern», erklärt Jean-Luc Blondel. Die Zustände in den Kriegsgefangenenlagern während des Ersten Weltkriegs seien teilweise deutlich besser gewesen als im Zweiten Weltkrieg.
Digitalisiertes IKRK-Archiv
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Seit 1988 sind die Karteikarten aus dem Ersten Weltkrieg im Rotkreuz-Museum in Genf ausgestellt. Das Kriegsgefangenen-Archiv gehört zum «Gedächtnis der Welt» der UNESCO.
Weil auch heute noch täglich Anfragen von Historikern und Genealogen beim IKRK eintreffen, wurden die Kärtchen, die Gefangenenlisten und die Korrespondenz des IKRK mit den kriegsführenden Ländern über die letzten Jahre elektronisch erfasst. Seit August sind die Informationen via Internet für jedermann einsehbar.