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Der 1. Weltkrieg Carl Spitteler, der vergessene Mahner

Seine Rede «Unser Schweizer Standpunkt» ist ein Paukenschlag. Der Dichter und spätere Literatur-Nobelpreisträger Carl Spitteler plädiert nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs für die absolute Neutralität der Schweiz – keine Selbstverständlichkeit damals.

Er zögert lange. Dann nimmt er die Einladung der Helvetischen Gesellschaft ins Zunfthaus zur Zimmerleuten in Zürich doch noch an. Am 14. Dezember 1914 hält dort der Dichter Carl Spitteler die historische Rede «Unser Schweizer Standpunkt». Spitteler spricht eine Stunde lang. Bisher hatte er sich kaum zur Tagespolitik geäussert. Heute tut er es eindringlich und vehement.

Carl Spitteler

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Legende: Wikimedia

Carl Spitteler (geboren 1845 in Liestal, gestorben 1924 in Luzern) studiert Jura und – als Atheist – protestantische Theologie. Er arbeitet als Privatlehrer in St. Petersburg, später als Lehrer sowie Journalist, dann als Autor in der Schweiz. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören das Versepos «Olympischer Frühling» und der Roman «Imago».

Ein tiefer Graben durch die Schweiz

Seit einigen Wochen tobt der Erste Weltkrieg. Die Schweiz ist tief gespalten. Die Sprachgrenze: un fossé, ein Graben. Die Deutschschweizer halten mehrheitlich zum Deutschen Reich und zu Österreich-Ungarn, die Welschen unterstützen Frankreich, Grossbritannien und Russland, die Gegenpartei.

Spitteler ermahnt die Schweizer eindringlich, sich nicht auf die Seite einer Kriegspartei zu schlagen. Sie sollen zu den «Brüdern» in den anderen Landesteilen der Schweiz halten. Denn die Landesgrenzen bedeuteten «auch für die politischen Gefühle Marklinien».

Neutraler Schweizer Standpunkt

Carl Spitteler folgert in seiner Rede: «Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab. Dann stehen wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt».

Spitteler fordert strikte Neutralität und ruft die Bescheidenheit als gebotene Verhaltensregel im Krieg in Erinnerung: «Mit der Bescheidenheit statten wir den Grossmächten den Höflichkeitsdank dafür ab, dass sie uns von ihren blutigen Händeln dispensieren».

Brisante Kritik

Spitteler kritisiert in seiner Rede das Deutsche Reich scharf für dessen Angriff auf das neutrale Belgien: «Dass Belgien Unrecht widerfahren ist, hat der Täter ursprünglich freimütig zugestanden. Nachträglich, um weisser auszusehen, schwärzte Kain den Abel».

Diese Kritik am Deutschen Reich verübelt ihm in den Tagen nach seinem Auftritt die deutsche Presse arg. Spitteler wird als «Deutschenfeind» verunglimpft, sein literarisches Werk in Bausch und Bogen verworfen.

Buchhinweis

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Felix Münger: «Reden, die Geschichte schrieben. Stimmen zur Schweiz im 20. Jahrhundert». hier+jetzt, 2014.

Die Kontroverse entbrennt wenige Tage danach auch in der Schweiz. Mit seiner Kritik am Deutschen Reich bringt Spitteler viele Mitbürger gegen sich auf – und viele seiner Leser. Die Protestschreiben stapeln sich, Verwandte und Freunde wenden sich von ihm ab. Der Poet erfährt aber auch Zustimmung, insbesondere im Welschen und in Frankreich.

Mythenbildung und Verklärung

Die Wirkung der Rede Spittelers wird später immer wieder verklärt. Carl Spitteler wird gar mit dem Heiligen Niklaus von Flüe verglichen, der einst einen Friedensschluss unter den Eidgenossen vermittelt hat.

Die Rede von Carl Spitteler vermag die Wogen nicht zu glätten. 1915 sieht sich der Bundesrat genötigt, die öffentliche Diffamierung fremder Völker und Regierungen in der Schweiz unter Strafandrohung zu verbieten. Carl Spitteler erhält 1919 als bisher einziger in der Schweiz geborener Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur.

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