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Schwierige Schwangerschaft «Der Druck, perfekte Kinder zu bekommen, ist allgegenwärtig»

Wird das Baby gesund oder schwer behindert sein? Eltern gehen durch die Hölle, wenn sie während der Schwangerschaft mit dieser Frage konfrontiert sind. Rahel und Ohad haben das erlebt – und darüber einen Film gedreht.

Bis zur 23. Schwangerschaftswoche freuen sich Rahel und Ohad auf die Zwillinge. Ohad ist Israeli und Filmautor, seine Frau Rahel ist Schweizerin, das Paar lebt in Tel Aviv. In der 23. Woche entdecken die Ärzte, dass einer der Zwillinge bald sterben wird. Der zweite Embryo könnte schwer behindert zur Welt kommen, die Ärzte raten dringend zur Abtreibung.

Wer solche Entscheidungen zu fällen hat, wird auf Werthaltungen zurückgreifen. In diesem Fall kommen die Eltern aus zwei Kulturen, die unterschiedlich mit ungeborenem Leben umgehen: In der christlichen Kultur gilt Leben von der Zeugung an als schützenswert. Im Judentum hingegen erlangt das Leben eines Menschen erst im Moment der Geburt vollen Personenstatus.

Zur Person

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Der israelische Filmautor und Videokünstler Ohad Milstein (44) lebt und arbeitet in Tel Aviv. Sein Film «Woche 23 – Die Entscheidung» lief an internationalen Filmfestivals und gewann mehrere Preise. Die «Sternstunde Religion» zeigt den Film in deutscher Erstausstrahlung. Zum Trailer.

Rahel möchte das Kind trotzdem zur Welt bringen. Sie findet Unterstützung bei ihrer christlichen Familie in der Schweiz – ihr Vater ist evangelisch-methodistischer Bischof. Ohads israelische Mutter hingegen ist überzeugt, dass es besser ist, das Kind abzutreiben. Auch Ohad selber kann sich kein Leben mit einem behinderten Kind vorstellen.

Für den Film «Woche 23 – Die Entscheidung» dokumentiert er den ganzen Prozess: die Diskussionen, die Ängsten und Zweifel.

SRF: Wie haben Sie auf die Nachricht reagiert, dass eines der Zwillinge sterben wird?

Ohad Milstein: Die ersten Tage nach der ärztlichen Diagnose waren wir schockiert und hatten Angst. Wir stellten uns fürchterliche Dinge vor. Danach waren wir uns kurze Zeit nicht einig: Sie wollte das Baby behalten, ich nicht.

Nach dem Gespräch mit Rahels Vater verstand ich, dass ich aufhören musste, Rahel zu einer Abtreibung zu drängen. Denn sonst würde ich nicht nur das Baby, sondern auch Rahel verlieren.

Ich wollte den Stoff konzeptionell angehen. Doch dann wurde alles sehr dramatisch und persönlich.

Wie haben Sie die Ärzte erlebt?

Nach der Diagnose hatte ich grosses Vertrauen in die Ärzte. Das änderte sich, als ich einen Irrtum in den Diagnose-Unterlagen entdeckte. Gleichzeitig wurde die Beziehung meiner Frau zum Embryo immer stärker. Je länger die Schwangerschaft dauerte, desto sicherer wurde sie, dass alles gut kommen würde.

Eine schwangere Frau liegt im Bett. Das Laken und die Matraze sind weiss.
Legende: Rahel, die Tochter eines Schweizer Bischofs, erlebt in Israel eine traumatische Schwangerschaft. Catndocs

Warum haben Sie und Ihre Frau beschlossen, aus diesem so persönlichen Drama einen Film zu machen?

Als ich Rahel kennenlernte, war ich unglaublich verliebt und filmte sie die ganze Zeit. Wenige Monate später wurde sie schwanger.

Ein befreundeter Filmautor schlug mir vor, das Thema Zwillingsschwangerschaft für einen Film aufzunehmen. Ich wollte den Stoff konzeptionell angehen. Doch dann wurde alles sehr dramatisch und persönlich.

…und auch gesellschaftlich brisant?

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Ich realisierte, dass hier in Israel Paare kaum über Abtreibungen sprechen. Die Fortpflanzungsindustrie in Israel ist sehr präsent.

Der Druck auf Eltern, perfekte Kinder zu haben, ist allgegenwärtig. In orthodoxen Kreisen werden sogar schon vor der Heirat Gentests durchgeführt, um genetische Probleme zu vermeiden.

Auch im säkularen Israel ist die Angst vor Behinderung verbreitet. Man fürchtet sich davor, dass die eigenen Kinder später nicht für sich sorgen können.

Warum ist das in Israel so wichtig?

Es entspricht dem Menschenbild. Die Idee der Selbstverteidigung ist tief verwurzelt. Das hat mit der Geschichte des jüdischen Volkes zu tun. Schon bei kleineren Missbildungen wird häufig abgetrieben, zum Beispiel bei gespaltener Lippe.

Ich würde heute viel stärker auf die Intuition der Mutter vertrauen.

Wie denken Sie heute darüber?

Ich bin mit dem erwähnten Menschenbild aufgewachsen: Ein Kind sollte geschickt sein, es soll gut sein darin, zu überleben. Doch heute urteile ich vorsichtiger.

Eine Abtreibung ist eine schwere Entscheidung. Ich würde heute viel stärker auf die Intuition der Mutter vertrauen. Ich bin weniger fixiert auf das perfekte Baby.

Die Gesichter einer jungen Familie: Vater, Mutter und der blonde Sohn in der Mitte.
Legende: Ohad und Rahel mit ihrem dreijährigen Sohn. Ohad Milstein

Was war die Rolle von Rahels Eltern?

Rahels Eltern waren klar in ihrer Haltung gegen die Abtreibung. Ich habe verstanden, wie wichtig der kulturelle Hintergrund ist für ihre moralische Haltung.

Das gleiche betrifft meine Mutter. Auch sie ist von ihrem israelischen Hintergrund geprägt und plädierte deshalb für eine Abtreibung. Meine Mutter ist heute sehr glücklich mit dem Kind.

Wie ist es, die Kamera auf die liebsten Menschen zu richten in diesen dramatischen Momenten?

Es war nicht so schwierig. Die Beteiligten vertrauten mir. Sie wussten, dass ich sie nicht manipulieren würde. Die Emotionen waren so stark, dass die Kamera nebensächlich wurde.

Wie geht es Ihrem Kind heute?

Sehr gut! Es ist drei Jahre alt, meine Frau ist wieder schwanger und bereitet sich auf die baldige Geburt vor.

Das Gespräch führte Christa Miranda.

Sendung: SRF 1, Woche 23 - Die Entscheidung , 5.3.2017, 10:00 Uhr

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