Die Nummer «19» erhielt Kurt Meier, als er 1948 in die Stadtpolizei Zürich eintrat – zur Unterscheidung von anderen Polizisten mit demselben Namen. 1965 wurde er zum Detektivwachtmeister befördert. Am 25. Oktober jenes Jahres geschah etwas, das für ihn dramatische Folgen hatte.
Als Meier und seine Frau ins Grüne fuhren, kam ihnen auf ihrer Fahrbahn ein Geisterfahrer entgegen: ein 75-jähriger Oberst und Fabrikdirektor. Meier beantragte, dessen Fahrtauglichkeit abzuklären. Der Rapport blieb wochenlang bei einem Vorgesetzten liegen. Später erfuhr Meier, dass die Polizei den Mann schon mehrmals schonend behandelt hatte.
Nachdem er einen Rapport geschrieben habe, sagte Meier 1997 im «Focus» (DRS3), sei er auf der Wache ins Büro eines Bekannten des Fabrikdirektors zitiert worden. Der habe behauptet, Meier habe den Geisterfahrer als «Schafseckel» tituliert. Aber: «Wenn ich dafür sorge, dass da nichts Weiteres passiere, sei es in Ordnung.» Mit anderen Worten: Meier solle seinen Rapport zurückziehen.
Gemäss dem Artikel der Bundesverfassung, dass vor dem Gesetz alle gleich seien, war Meier «aufgeschreckt»: «Das ist wieder ein Sonderfall.» Ähnliches hatte er bereits zuvor erlebt. Eine Regierungsratsgattin hatte zum Beispiel bei einer Verkehrskontrolle einen falschen Namen angegeben. Ihre Verfehlung im Strassenverkehr blieb ungeahndet.
Die Verbannung
Meier bemühte sich intern um Gehör, erfolglos. Deshalb leitete er Aktenkopien, die Hinweise auf Begünstigung Prominenter enthielten, über eine Anwältin an die Medien.
Nun ging es Schlag auf Schlag: Im Februar 1967 berichtete die Presse über die Milde der Polizei gegenüber prominenter Verkehrssünder. Ab März ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen Meier wegen Amtsgeheimnisverletzung, Amtsmissbrauch und Nötigung, und die Polizeileitung suspendierte ihn vom Dienst. Im Mai verurteilte ihn die Bezirksanwaltschaft zu einer kurzen Gefängnisstrafe. Im Juni wurden die Lohnzahlungen eingestellt. Im September entliess die Polizei Kurt Meier wegen Amtsgeheimnisverletzung.
Kurt Meier verlor alles. In einem Beitrag der Sendung «Rendez-vous» fasst er das 1998 so zusammen: «Ich führte ein gutbürgerliches Leben, hatte ein Einfamilienhaus, eine gesunde Familie. Nachweisbar ist es aus dem Skandal zur Scheidung gekommen. Ich war auch im Gefängnis. Ich war lange Zeit arbeitslos. Wo immer ich mich vorgestellt habe, musste ich sagen, wo ich 20 Jahre gearbeitet hatte. Das hat die Reaktion ausgelöst: ‹Halt! Der Mann ist bei der Polizei fortgejagt worden. Da stimmt etwas nicht. Wir nehmen einen anderen.›»
Am stärksten habe ihn getroffen, dass ihn die Kollegen fallenliessen, sagte er 1997 der «Tagesschau»: Die meisten, denen er begegnete, seien ihm ausgewichen. «Sie hatten Angst, dass die Korpsleitung erfährt, dass sie mit mir zusammengekommen sind.» 35 Jahre habe er in der Verbannung gelebt.
Entlassung, Arbeitslosigkeit, Scheidung, Gerichtsverfahren und deswegen Schulden. Doch Meier gab nicht auf. Weil er es nicht hinnehmen wollte, «dass unser Rechtsstaat total eingebrochen war. Ich fühlte mich gegenüber meinen Kindern verpflichtet, nicht locker zu lassen, bis alles offengelegt ist».
Ab Oktober 1967 untersuchte eine parlamentarische Untersuchungskommission die Fälle von Protektion, Ungleichbehandlung und Korruption bei der Stadtpolizei, die Meier angeprangert hatte. Der Schlussbericht der PUK bestätigte zwar, dass «Kameradenbegünstigung» und Unkorrektheiten vorgekommen seien. Es handle sich aber um Einzelfälle.
Die verschwundenen Lohntüten
Enormes Aufsehen erregte, als der suspendierte Meier begann, sich mit einem Diebstahl in der Hauptwache Urania zu beschäftigen: In der Nacht auf den 27. März 1963 waren aus einem Tresor in einem Raum, zu dem nur Polizeiangehörige Zugang hatten, 71 Zahltagssäcklein mit 88'350 Franken verschwunden.
Dass die Stadtpolizei den Vorfall untersuchte und nicht die unabhängige Kantonspolizei, sei nicht nur ihm «ungeheuerlich» vorgekommen, erinnerte sich Meier 1997 im «Focus». Er bohrte und verbohrte sich: Ohne Beweise behauptete er, der Dieb sei Kripo-Chef Walter Hubatka.
Meier stützte sich auf einen bisher nicht vernommenen Zeugen, der den Polizeioffizier in der Tatnacht auf dem Gang gesehen hatte. Der Chef habe ein falsches Alibi angegeben, um den Diebstahl zu vertuschen.
1969 bezichtigte Meier den Vorgesetzten in einer breit gestreuten «Denkschrift» dieses Delikts. Später suggerierte er das auf einem Flugblatt erneut. Hubatka klagte wegen Ehrverletzung. Das Verfahren verschaffte Kurt Meier Einblick in alle Akten, und er reichte zahlreiche Strafanzeigen und Beschwerden gegen Funktionäre von Polizei, Verwaltung und Justiz ein – wegen Begünstigung, Amtsmissbrauch und falschem Zeugnis. Er verlor eins ums andere Mal.
1975 verurteilte ihn das Zürcher Geschworenengericht wegen übler Nachrede gegen den Kripo-Chef zu einer bedingten Haftstrafe von drei Monaten und zu Entschädigungen. In 36 Gerichtsverfahren war Meier verwickelt.
Dass die Untersuchung des Zahltagdiebstahls mangelhaft war, anerkannte 1975 das Bundesgericht – und noch 2001 auch der Zürcher Regierungsrat. Der Diebstahl blieb ungeklärt.
Wahrheitsfanatiker oder Symbolfigur?
Ein Polizist, der interne Ungereimtheiten in die Öffentlichkeit trägt, das war (und wäre auch heute) unerhört. Für die einen war «Meier 19» ein Gerechtigkeitsfanatiker, der gegen den Korpsgeist verstossen hatte, für andere eine Symbolfigur: Am 26. August 1967 forderten Studierende an einer Demonstration, die Polizei müsse die Entlassung zurücknehmen. «Es kam zum ersten 68er-Krawall», schrieb der Journalist Paul Bösch 1996 in einem umfassenden Artikel im «Magazin» des «Tages-Anzeigers».
Der Musiker Toni Vescoli erinnerte sich an Meier als «Idolfigur, mit der man sich identifiziert» habe: «Einer von denen selber sagt ja auch, dass da etwas schiefläuft.»
30 Jahre danach
In den 1990er-Jahren bekam der Whistleblower erneut grosse Aufmerksamkeit. Ab 1995 recherchierte nämlich Paul Bösch (1946–2020) über ihn. Er schrieb Artikel und ein Buch. In «Reflexe» (DRS 2) sagte Bösch 2001, Kurt Meier sei eine faszinierende Person: «Ein gewinnender, charmanter Mann, keineswegs ein verbiesterter alter Fanatiker. Es ist der Fall eines Menschen, der immer mehr ins Gerechtigkeitsfieber kommt. Ich sage das auch mit einem kritischen Unterton. Manchmal ist er zu weit gegangen, aber in den Grundzügen hat ihn ein edles, gutes Fieber gepackt, das Fieber für die Gerechtigkeit. Dafür hat er viel gelitten.»
Auf Böschs Recherchen beruht der erfolgreiche Dokumentarfilm von Erich Schmid. Den Fall «Meier 19» charakterisierte der Regisseur zum Kinostart 2001 in «Reflexe» so: «Kleiner Mann. Grosses Schicksal. Einer allein gegen die Mächtigen … Das ist ein dramatischer Stoff, der Stoff einer klassischen Tragödie.»
Am meisten hätten ihn Meiers Autoritätsprobleme interessiert, erklärte Schmid dem «Echo der Zeit»: «Er hatte in der Polizei die gleichen Probleme, die wir Jungen in der Gesellschaft hatten. Es war eine Zeit, die von autoritären Strukturen dermassen zugedeckt war, dass man sich Luft verschaffen musste.»
In seinem Roman «Hauptwache Urania» hat 2017 auch der Krimiautor Peter Beutler den Fall verarbeitet.
Kein Happy End
1998 entschädigte der Zürcher Stadtrat Kurt Meier mit 50’000 Franken für die Entlassung. Als Erich Schmids Film ins Kino kam, kommentierte Meier diese Zahlung mit den Worten: «Das ist eine Krämerei, billige Wahlpropaganda für den Stadtrat.» 50’000 Franken. «Das war ein Prozent des Schadens, der mir tatsächlich entstanden ist.» Der Kanton Zürich lehnte 2001 eine Entschädigung ab.
Jahrelang lebte Kurt Meier in einer Einzimmer-Sozialwohnung am Stadtrand, mit minimaler Rente. Am 2. November 2006 starb er mit 81 Jahren. Offiziell rehabilitiert wurde er nie.