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Der Fall Pelicot «Jetzt müssen die Männer Schuld und Scham auf sich nehmen»

Der Fall der 71-jährigen Gisèle Pelicot bewegt nicht nur Frankreich. Ihr eigener Ehemann hatte sie mutmasslich über rund zehn Jahre immer wieder betäubt und fremden Männern zur Vergewaltigung angeboten.

Der Prozess in Avignon findet auf ausdrücklichen Wunsch Pelicots öffentlich statt. Das ist keineswegs üblich. Zum Schutz von Opfern wird die Öffentlichkeit in solchen Prozessen meist ausgeschlossen. Pelicots Mut verändere endlich den Fokus, sagt die Historikerin Elisabeth Joris, die zur Geschichte der Frauen in der Schweiz forscht.

Elisabeth Joris

Historikerin

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Elisabeth Joris studierte Geschichte und französische Literaturgeschichte an der Universität Zürich. Die Walliserin arbeitete als Mittelschullehrerin und publizierte als freischaffende Historikerin zahlreiche Beiträge zur Frauen- und Geschlechtergeschichte der Schweiz.

SRF: Gisèle Pelicot hat sich ganz bewusst für einen öffentlichen Prozess entschieden. Sie will, dass die «Scham die Seite wechselt». Was heisst das?

Elisabeth Joris: Gisèle Pelicot meint, dass bei Vergewaltigungsfragen diesmal nicht mehr Frauen im Fokus stehen, sondern jene Männer, die so etwas tun. Das heisst: Sie müssen die Schuld und damit auch die Scham auf sich nehmen.

Bis heute steht in Fragen der sexualisierten Gewalt immer auch das Verhalten der Frau im Fokus. Das hält viele Frauen davor zurück, überhaupt zu klagen.

In diesem Sinne ist Gisèle Pelicot gleich doppelt mutig. Denn sie wollte die Gerichtsverhandlung öffentlich stattfinden lassen. Verändert dieser Mut ihren Status als Verbrechensopfer?

Das verändert ihn zentral. Ein Opfer ist ja immer auch ein Objekt von Gewalt. Mit ihrem Entscheid macht Pelicot sich zum handelnden Subjekt.

Eine Strategie bei allen sexualisierten Gewaltakten ist, dass man die Mitschuld der Frau ins Zentrum setzt.

Das heisst: Sie bestimmt, dass die Taten der Männer im Zentrum stehen – als sexualisierte Gewalt, als Gewalt von Macht gegen buchstäblich Ohnmächtige.

Die Strategie einiger Angeklagter ist, dass sie sich selbst zu Opfern erklären. Sie hätten vom Einverständnis des Ehemanns auf das Einverständnis der Frau geschlossen. So demütigen sie Gisèle Pelicot nochmals. Verändert Pelicots Mut auch, wie die Gesellschaft Täter wahrnimmt?

Eine Strategie bei allen sexualisierten Gewaltakten ist, dass man die Mitschuld der Frau ins Zentrum setzt. Der Mann ist so gesehen gar nicht der Täter. Indem Pelicot das aber so zentral ins Zentrum setzt, verändert sich der Fokus. Es geht nicht mehr, dass die Gewalt als solche nicht als Gewaltakt definiert wird.

Die Scham sollen die Täter erfahren. Unterschwellig lag die Scham immer auf der Seite der Frau.

Was ist die wichtigste gesellschaftliche Folge, die dieser Strafprozess auslösen kann?

Dass Frauen sich nicht mehr schämen, Anklage zu erheben. Gerade verheiratete Frauen waren ja lange zurückhaltend, weil sie mit einer Anklage gegen ihren Mann eine Familie hätten zerstören können. Man sah das auch in der Schweiz: Auch nach der Einführung des Strafrechtsparagrafen, der seit 1992 gilt, kam es nicht zu der erwarteten Flut von Anklagen. Unterschwellig fühlte sich die Frau weiter mitschuldig.

Mit dieser öffentlichen Anklage zeigt sich: Häusliche sexualisierte Gewalt darf und soll ans Tageslicht gebracht werden. Sie darf und soll als solche definiert werden, und zwar als Frage der Macht.

Denn die sexualisierte Gewalt ist immer auch eine Machtfrage. Lange waren Frauen Objekte, das heisst, sie waren zu ehelichen Pflichten verpflichtet: Sexualisierte Gewalt in der Ehe war kein Gewaltakt. Jetzt verschiebt sich die Perspektive.

Gisèle Pelicot ist also diejenige, die jetzt hinter der Kamera steht. Sie kann die Kamera auf die Täter richten, damit sie ins Blickfeld kommen.

Das ist das Entscheidende. Die Scham ist nicht bei der Frau. Die Scham sollen die Täter erfahren. Das ist wirklich zentral, auch wenn Männer verurteilt wurden. Unterschwellig lag die Scham immer auf der Seite der Frau.

Das Gespräch führte Ruth Wili.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 26.9.2024, 07:06 Uhr ; 

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