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Der kategorische Aperitif So partytauglich ist Kants Philosophie

Sieben Partyszenen, sieben philosophische Antworten à la Immanuel Kant. Der Philosoph würde am 22. April 2024 300 Jahre alt. Warum seine Ideen immer noch aktuell sind, zeigt unser «Partytest».

Gläser klirren, Musik hallt durch die Räume, Häppchen werden serviert und man unterhält sich locker über dies und das. Taugt Kants Philosophie heute noch – auch als Ratgeber für den Ausgang? Wir testen den Denker der Aufklärung in sieben imaginierten Szenen auf seine Alltagstauglichkeit.

1. Die Lachsbrötchen sind wahnsinnig lecker. Sie fragen sich: «Darf ich alle wegputzen? Sieht ja keiner!»

Moment! Mal abgesehen davon, dass Kant über beste Manieren verfügte und kaum zu Völlerei neigte, zückt er bei Fragen nach dem moralisch Richtigen seinen «kategorischen Imperativ». In seiner einfachsten Formulierung lautet er: «Handle nach einer Maxime, welche zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann.» Etwas einfacher gesagt, sollten wir uns so verhalten, dass unser Tun verallgemeinerbar ist, ganz nach dem Motto: «Was, wenn das alle täten?»

Eine Hand greift nach einem Lachsbrötchen.
Legende: Typ Nimmersatt? Wollen Sie moralisch richtig handeln, halten Sie sich trotzdem zurück. So würde es zumindest Immanuel Kant einschätzen. IMAGO / Shotshop

Das Resultat hier wäre ein nach kurzer Zeit leer geräumtes Buffet, sodass den Gästen, die später eintrudeln, kein Häppchen mehr bliebe. Dass niemand herausfinden wird, wer die Platten leergegessen hat, wenn Sie klammheimlich naschen, macht für Kant die Handlung nicht besser. Massstab ist das moralische Gesetz in Ihnen und die Beachtung der Pflicht, der Sie folgen sollen, egal, was andere sehen und denken.

2. Sie stossen zu einer Gruppe, die über Taylor Swift diskutiert. Einige outen sich als Fans, andere finden ihre Musik grauenhaft. Einfach Geschmackssache?

Ja, tatsächlich! Kant war ein Freund der entschiedenen Positionen. Bei Diskussionen über Kunst und Ästhetik hätte er sich mit einem harten Urteil aber zurückgehalten. Das heisst nicht, sich schulterzuckend abzuwenden und zu sagen: «Welche Musik man mag, ist eben subjektiv.»

Drei Personen sitzen an einer Bar und gestikulieren
Legende: Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. «Immer weiter so!», wäre Kants Kommentar dazu. Getty Images / NoSystem images

Vielmehr lässt sich über Geschmack eben wunderbar streiten. In seiner «Kritik der Urteilskraft» sagt Kant, wir finden schön, was «interesselos gefällt»: Ein Tulpenbeet, einen Sonnenaufgang oder ein Gemälde von Vermeer empfinden wir als wahrhaft schön, weil sie nichts erreichen wollen mit ihrer Schönheit, sondern ohne Absicht berühren.

Ob das bei Taylor Swifts Musik der Fall ist, darüber kann nicht wissenschaftlich geurteilt, wohl aber diskutiert werden. Die einen sagen vielleicht: «Swift hat ein fantastisches Gespür für Pop-Hymnen und schafft es, immer wieder neue Hooks zu kreieren.» Andere werfen ein: «Blödsinn, Swift ist ein Produkt einer Musikindustrie, in der es nur um eines geht: um Geld.» Einen Beweis wird niemand vorlegen können, aber der Streit schärft unsere Urteilskraft. Insofern: Gerne weiter streiten!

3. Ihre Kollegin kreuzt in einem furchtbaren Fummel auf der Party auf. Dürfen Sie ihr aus Höflichkeit ein Kompliment machen?

Kommt darauf an. Kant ist zwar bekannt für sein absolutes Lügenverbot. Dass wir bei der Befolgung moralischer Pflichten strikt bleiben sollten, hat zwei Gründe: Erstens werden wir uns, wenn wir uns erst einmal Ausnahmen erlauben, immer öfter die Extrawurst herausnehmen.

Damit unterlaufen wir die Kraft der Moral, die das Fundament des Zusammenlebens bildet. Zweitens überschätzen wir unsere Fähigkeit, die Folgen einer Handlung vorwegzunehmen. Eine Notlüge macht vielleicht alles nur schlimmer, als wenn wir die Wahrheit gesagt hätten.

Eine junge Frau trägt ein Kleid mit Pailletten und langen Fransen
Legende: Komplimente zu machen kann uns dabei helfen, freundlicher zu werden. IMAGO / Cavan Images

Mit Bezug auf das Kleid würde Kant ein falsches Kompliment unter Umständen dennoch gutgeheissen. In seiner «Anthropologie in pragmatischer Hinsicht» schreibt er, ein falsches Kompliment sei keine richtige Lüge – immerhin hat die Kollegin nach unserem Urteil nicht gefragt, insofern belügen wir sie auch nicht. Vielmehr wollen wir einfach freundlich sein.

Gerade bei Personen, die wir nicht mögen, können solche Nettigkeiten helfen, unsere Aversionen abzulegen. Trüge allerdings unsere beste Freundin den Fummel, sollten wir ehrlich sein zu ihr, um das Vertrauen zwischen uns nicht zu zerstören und sie vor Peinlichkeit zu bewahren.

4. Mit der Zeit stapelt sich überall Schmutzgeschirr. Ihnen tun die Angestellten leid, die abwaschen müssen. Ist es in Ordnung, unliebsame Tätigkeiten zu delegieren?

Im Grundsatz ja. Wenn andere für uns arbeiten, benutzen wir sie zwar offenkundig als Mittel zum Zweck. Steht das nicht in Widerspruch zu Kants sogenannter «Selbstzweckformel», die strikt untersagt, andere für eigene Zwecke zu instrumentalisieren? Nicht unbedingt. Macht jemand für uns den Abwasch und verdient dafür gutes Geld, liegt eine Art Tauschhandel vor: Die einen wollen eine saubere Küche, die anderen ein Gehalt.

Dieses gegenseitige Benutzen hat so lange nichts moralisch Anstössiges, wie die Beteiligten einander immer auch als Zwecke betrachten: als Menschen, die zu respektieren sind. Hielten wir für den Abwasch Sklaven, wäre das nicht der Fall, denn Sklaven werden verdinglicht, weil sie das Eigentum ihres Käufers sind, der wiederum mit ihnen machen kann, was ihm beliebt.

Ist das Küchenpersonal sehr arm und auf einen Verdienst dringend angewiesen, ist es womöglich bereit, zu sehr schlechtem Gehalt oder sogar schwarz zu arbeiten. Im schlimmsten Fall würden diese Menschen in ihrer Würde verletzt. Arbeit darf also – selbst, wenn sie unangenehm ist – delegiert werden, solange die Arbeitsbedingungen die Würde der Arbeitnehmenden nicht verletzten und sie nicht unter Zwang arbeiten.

5. Sie werden in ein Gespräch verwickelt und die Gruppe entpuppt sich als Verschwörungstheoretiker. Was lässt sich ihnen entgegnen? Kant sagt doch: «Wage, selbst zu denken!»

Korrekt. Aber das heisst nicht, dass Wahrheit beliebig ist. Kants Aufruf, sich «mutig des eigenen Verstandes zu bedienen», weist uns zwar an, nicht alles zu glauben, was man uns erzählt. Das gilt auch und gerade für das, was uns Autoritäten oder Meinungsmacher als unhintergehbare Wahrheiten auftischen.

Kant war stark beeinflusst von der Französischen Revolution und schrieb gegen staatliche und kirchliche Bevormundung an. Doch er war sich auch bewusst, dass Aufklärung in alles durchdringenden Argwohn umschlagen kann: In seiner «Anthropologie in pragmatischer Hinsicht» charakterisiert er die Paranoia nicht als Unvernunft, sondern als Übervernunft.

Damit meint Kant, dass die Skeptiker es mit ihren kritischen Rückfragen auch übertreiben können und «mit Vernunft rasen». Das Resultat: Sie sehen Zusammenhänge, die es nicht gibt, und stellen Fragen, die sich nicht beantworten lassen.

Illustration zweier Personen, die einen Drink in der Hand halten und gestikulieren
Legende: Ob «Flat Earth» oder «QAnon»: Heutige Verschwörungserzählungen würde Kant trotz seines Votums «Wage, selbst zu denken» wohl als Paranoia einstufen. Getty Images / CSA-Images

Für Kant sind zwei Dinge unhintergehbar: Erstens haben wir uns in der Interpretation der Welt an die Grundsätze der Naturwissenschaften zu halten. Zweitens werden wir «von Fragen belästigt», die wir nicht lösen können, wie Kant in seiner «Kritik der reinen Vernunft» schreibt. Da gibt es nichts zu «vernünfteln», sondern das müssen wir aushalten.

300 Jahre: Darum feiern wir Immanuel Kant

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Eine Bronzestatue eines Mannes. Auf dem Sockel steht «Kant»
Legende: IMAGO / Pond5 Images

Immanuel Kant zählt zu den bedeutendsten Denkern der Geschichte. Mit seinem umfassenden Werk hat er nicht nur die Philosophie revolutioniert, sondern gilt auch als Ideengeber der Epoche der Aufklärung. Seine Heimatstadt Königsberg verliess er zwar nie. Dennoch hinterliess er ein umfassendes Werk nicht nur zu philosophischen Fragen, sondern auch zu Problemen der Astronomie, Physik, Geografie und Erziehung. Heute gilt er als Vordenker der Vereinten Nationen (UNO) und des modernen Asylrechts, und seine Vorstellung der Menschenwürde hat nicht zuletzt die Menschenrechte inspiriert.

6. Auf der Party treffen Sie Ihre Chefin. Angesichts der nächsten Lohnrunde: Ist das nicht der perfekte Moment, sich bei ihr einzuschleimen? Immerhin wissen Sie um ihre Eitelkeit.

Nein. Kant würde sich im Grab umdrehen! Er war nicht nur der Ansicht, dass wir unser Gegenüber respektvoll behandeln sollen. Diesen Respekt schulden wir auch uns selbst. Sich bei anderen einzuschleimen, nennt Kant «Kriecherei»: für ihn ein klarer Verstoss gegen die Pflicht, sich selbst zu achten.

Eine Frau und ein Mann auf einer Party stossen an
Legende: Anstossen und jemandem nur aus eigenen Vorteilsabsichten Honig ums Maul schmieren. Kants Meinung dazu wäre: Das geht gar nicht! Getty Images / AzmanJaka

«Wer sich zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füssen getreten wird», schreibt Kant in der «Metaphysik der Sitten». Denn wenn wir uns selbst niedrig behandeln, laufen wir Gefahr, dass andere uns auch so behandeln. Wir sollen durchaus mit erhobenem Haupt für unsere Interessen einstehen, und uns nicht unter Wert verkaufen.

7. Aus einem heissen Flirt an der Bar könnte eine wilde Nacht werden. Was hätte Kant gesagt: Heisst wirklich nur «ja» ja?

Ja. Denn Einverständnis ist alles. Für Kant war Sex nur innerhalb der Ehe moralisch erlaubt. Das ist nicht mehr zeitgemäss – aber aus seiner Begründung lässt sich einiges lernen. Kant bezeichnet Sex als den «wechselseitigen Genuss der Geschlechtseigenschaften», bei dem sich zwei Menschen gegenseitig als Objekt benutzen. Das kann nur in Ordnung sein, wenn die zwei einander die Erlaubnis dazu geben. Der Ehevertrag besiegelt diese Erlaubnis.

Ein Mann und eine Frau schauen sich verliebt in die Augen und lachen, sie halten beide ein Bier in der Hand.
Legende: Aussicht auf eine heisse, gemeinsame Nacht? Wie war das noch gleich mit dem Konsens … Getty Images / ferrantraite

Beim heissen Flirt und der wilden Nacht liegt ein solcher Vertrag nicht vor. Umso mehr muss um Einverständnis gebeten werden. Die körperliche Unversehrtheit einer anderen Person dürfen wir nämlich nie verletzen – es sei denn, sie willigt dazu explizit ein. Ob in dieser Logik auch Prostitution mit Kant gerechtfertigt werden könnte, ist umstritten. Sicher aber ist: Sex bedarf, mit Kant gedacht, der expliziten Zustimmung.

Kant: Lektüretipps

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  • Für einen packenden Einstieg in Kants Denken, verknüpft mit Biografischem, eignet sich das Buch «Kant. Die Revolution des Denkens» des Philosophen und Kantforschers Marcus Willaschek. C.H. Beck: 2023.
  • Die Sonderausgabe des Philosophie Magazins «Kant. Die Kraft der Vernunft in chaotischen Zeiten» (2024) zeigt die Aktualität von Kants Schaffen in Interviews, Reportagen und Originaltexten auf.
  • Der Philosoph Omri Boehm und der Schriftsteller Daniel Kehlmann unterhalten sich klug und gegenwartsbezogen über Immanuel Kant in «Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant». Propyläen 2024.
  • Kurz und bündig und frisch ab Presse ist der kleine Band «Kants Philosophie» von Gabriele Gava und Achim Vesper erschienen. C.H.Beck 2024.

Sendungen zum Jubiläum «300 Jahre Kant»

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SRF 1

  • Sonntag, 21. April, 10 Uhr Sternstunde Philosophie: «Kant – Das Experiment der Freiheit». Der Film von Wilfried Hauke entführt ins Königsberg des 18. Jahrhunderts.
  • Sonntag, 21. April, 11 Uhr Sternstunde Philosophie: Wolfram Eilenberger im Gespräch mit dem Kant-Forscher und Philosophen Marcus Willaschek

Radio SRF 2 Kultur

  • Freitag, 19. April, 20 Uhr Passage: «Der Philosoph der Mündigkeit. Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant: Eine Neubewertung». Eine Sendung von Günter Kaindlstorfer
  • Sonntag, 21. April, 8.30 Uhr Perspektiven: «Kants Religionskritik auf dem Prüfstand». Eine Spurensuche von Nicole Freudiger
  • Montag, 22. April, 6.20 Uhr 100 Sekunden Wissen: «Der kategorische Imperativ»

Radio SRF 2 Kultur, Passage, 19.4.2024, 20:00 Uhr

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