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Gesellschaft & Religion «Die Empathie-Tests»: Das Leiden der Anderen

Als neue Susan Sontag wird sie gefeiert. Als Essayistin mit Poesie und Präzision. Als junge Denkerin von grossem Format. Die Rede ist von Leslie Jamison, die literarische Entdeckung Amerikas im letzten Jahr. Ihr Buch «Die Empathie-Tests» ist herz- und horizonterweiternd – und kann schwindlig machen.

Leslie Jamison nimmt den Mund voll. Sehr voll: «Ich bin ein Mensch und nichts Menschliches ist mir fremd.» Der Spruch aus Terenz' «Selbstquäler» ist das Motto ihres Essaybandes «Die Empathie-Tests». Damit nicht genug. Der Spruch ist auch auf ihrem Unterarm verewigt. Als Tattoo. Das Tattoo ist eine Fährte zum Selbstverständnis der Autorin.

Buchhinweis

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Leslie Jamison: Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer. Hanser Berlin Verlag.

Die gerade mal 33 Jahre alte New Yorkerin hält nichts von antiseptischem Denksport. Nichts vom reinen Kopffüsslertum. Aber auch nichts von Gefühlsduselei. Ihr Buch ist schillernd und verstörend. Radikal und schwindelerregend. Es wirft mehr Fragen auf als es beantwortet. Und es lässt niemanden kalt. Jamison riskiert viel.

Im Nu in den Bestsellerlisten

Wie ein Kaffeekränzchen, an dem man sich ausgiebig von den Bresten und Wehwehchen erzählt, fotzelt ein Rezensent im «Spiegel». Ein virtuoser Umgang mit Zwickmühlen, die sich immer ergeben, wenn man sich mit dem Thema Schmerz denkerisch und emotional auseinandersetzt, lobt die «FAZ».

Auch der «New Yorker» ist voll des Lobes: «Jamison schreibt mit nüchterner Präzision und aussergewöhnlicher Verletzlichkeit. Ihre Erkenntnisse sind so präzise wie poetisch.» Im Nu ist Jamison in den Bestsellerlisten und damit die Verkaufsüberraschung des letzten Jahres in den USA.

Ein Porträt von Leslie Jamison.
Legende: Leslie Jamison studierte in Harvard und Yale, wo sie derzeit eine Dissertation über Erzählungen von Sucht abschliesst. Colleen Kinder

Empathie? Mitgefühl!

Ist Empathie lernbar? Wann wird Mitgefühl zum Übergriff? Kann ich mich verlieren in der Einfühlung, in den Schmerz des anderen? Wann wird Empathie zur blutleeren Profipose? Wo hilft Empathie und wo vergrössert sie das Leiden, statt es zu mildern? Zu all den abstrakt anmutenden Fragen kommt die radikale Autorin mit einem riskanten Gemisch von Reportage und Kulturkritik, persönlichem Erzählen und Science-Report.

Jamison schreibt über den mexikanischen Drogenkrieg und die Leiden der Marathonläufer auf den letzten Metern der Mammutstrecke. Sie schreibt über den weiblichen Schmerz und über Menschen, die sich wegen vermeintlichen Parasiten im Körper die Haut vom eigenen Leib reissen. Sie plädiert anhand einer Kurzgeschichte über den Süssstoff für Sentimentalität. Und das ist längst nicht alles.

Zu neu, zu elegant und zu gut

Die Autorin weiss, was weh tut. Eine Abtreibung und ein Herzfehler. Eine eingeschlagene Nase und Liebeskummer. All das gehört zum Erfahrungsschatz ihres jungen Lebens. Sie schreibt auch mit der Blutspur der eigenen Erfahrung mit Ritzen in der Adoleszenz.

Aber sie weiss um die Klippen des Exhibitionismus und um die verführerische Wonne des Selbstmitleids. Sie verliert nie den Kopf. Das kann einem als Leser aber schon passieren.

Mich hat Leslie Jamison da und dort schwindlig gemacht. Ich hab das Buch immer wieder mal weglegen müssen. Wohl wissend, dass ich es bald wieder zur Hand nehmen werde. Es ist zu gut. Zu aufregend. Zu neu. Zu elegant. Zu unverwechselbar. Und zu herz- und horizonterweiternd, als dass man es zu lange zugeklappt lassen möchte.

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