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Gesellschaft & Religion «Die Fussball-EM zeigt, was der EU an Attraktivität fehlt»

Aussenseiter Portugal holt den Titel. Gastgeber Frankreich geht als Verlierer vom Platz, zumindest im Endspiel. Was bleibt nach vier Wochen Fussball-EM? Gings nur um Fussball – oder doch viel mehr? Hans Ulrich Gumbrecht über Projektionen, Underdogs und nationale Identitäten.

Was bleibt Ihnen von dieser Fussball-Europameisterschaft in Erinnerung, Hans Ulrich Gumbrecht? Was hat sie ausgezeichnet?

Zur Person

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Legende: Wikimedia/Laura Teresa Gumbrecht

Hans Ulrich Gumbrecht ist Professor an der Stanford-Universität in Kalifornien. Der Deutsche, ein begeisterter Fussballfan, hat sich als Literaturwissenschafter und Publizist immer wieder zu sportlichen Fragen geäussert.

Hans Ulrich Gumbrecht: Ich denke, das ist das Ende des Ballbesitzfussballs gewesen. Die beiden Mannschaften, die es bis ins Endspiel gebracht haben, sind Mannschaften, die in allen Spielen vor dem Endspiel die geringeren Ballbesitzanteile hatten. Also Kontermannschaften, wie man früher gesagt hätte.

Und dann ist evident bis ins Endspiel: Das war die Europameisterschaft der kleinen Nationen. Die kleinen Nationen haben über Erwarten gut gespielt. Sie haben attraktiv gespielt. Und auch über die kleinen Nationen hinaus Sympathie genossen.

Man hat das als Märchen verkauft. Island: Das sind ein paar Jungs, die zusammen gegen die grossen Fussballnationen spielen. Romantisieren wir die Underdogs?

Ja klar! Aber warum soll man sie nicht romantisieren? Romantisieren ist ein kritisches Wort, wenn man über Politik redet. Aber Sport ist – ähnlich wie Spielfilme – dazu da, Projektionen zu erlauben. Man identifiziert sich mehr mit dem Underdog als dem «Overdog». Und das ist auch richtig so.

Dass das möglich ist, hängt natürlich damit zusammen, dass die Qualität des Fussballs, der bei einer Fussball-Europameisterschaft gespielt wird, weit unter der Qualität der Champions League liegt. Denn in der Champions League spielen wirklich die besten Mannschaften der Welt.

Und dann wird ein Zufallsprinzip – das Prinzip, wo der Spieler geboren ist – zum Selektionsprinzip, und man muss in zwei Monaten die bestmögliche Mannschaft zusammenstellen. Deswegen kann plötzlich Island oder Wales schönerweise so überraschend gut sein.

Verschiedene Sportjournalisten sagen jetzt schon: Das war eines der schwächsten Turniere überhaupt. Spielt das überhaupt eine Rolle? Wir schauen ja sowieso zu.

Wie gut der Fussball ist, spielt offenbar keine Rolle. Weil eine Europameisterschaft im Gegensatz zur Champions League Identifikationspotenziale mitbringt, die es sonst nicht gibt. Ausserdem wird im Sommer gespielt, wenn sehr viele Leute sehr viel Zeit haben.

Insofern braucht die Europameisterschaft gar nicht gut zu sein. Die Leute gucken sie sich trotzdem an. Zumindest so lange, wie die eigene Mannschaft dabei ist.

Europa in einer Zeit, in der sich die europäischen Länder in der Politik auf ihre nationale Identität wieder besinnen: Wie kommt da so eine Europameisterschaft daher?

Man könnte sagen, dass die Europameisterschaft genau das Europa ist, das die EU nicht angeboten hat. Dass die EM zeigt, was der EU an Attraktivität gefehlt hat. Es gibt das Europa der Nationen, es gibt eine Flagge.

Aber eigentlich hat sich nie jemand für Europa begeistern können – möglicherweise wegen der Neutralisierung nationaler Identitäten. Denn die Stärke von Europa ist ja eine ungeheure sprachliche und kulturelle Identitätsdifferenzierung auf engstem Raum. Und das wird bei so einer Europameisterschaft artikuliert.

Es ist ja freundschaftlich. Es gibt viel weniger Hooligans, als es früher gab. Es gibt viel weniger Schlägereien, als es früher gab. Die Fans verschiedener Mannschaften umarmen sich und laufen durch die Innenstädte. Aber es gibt eine Differenzierung. Und das ist möglicherweise das Europa, zumindest sichtbar das Europa, das die EU zu sein nie geschafft hat.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 11.07.2016, 06:50 Uhr

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